Die Kaufmannstochter von Lübeck
Seite ihres Vaters den Langen Saal des Rathauses betrat, wollten Johanna diese Worte einfach nicht aus dem Sinn gehen.
In der Mitte des Langen Saals stand eine Tafel, die einem Teil der Ratssendboten Platz bot. Alle anderen mussten stehend an der Zusammenkunft teilnehmen. Wer einen Platz bekam und wer nicht, richtete sich in erster Linie nach dem Rang, den jemand einnahm. Den Bürgermeistern standen selbstverständlich Plätze zu, aber auch den Vertretern sehr wichtiger Städte, selbst wenn diese nur einfache, allerdings in der Regel mit weitreichenden Vollmachten ausgestattete Ratsmitglieder waren. In den Wochen, seit Johanna und ihr Vater nun inzwischen schon in Köln weilten und an den regelmäßig stattfindenden Beratungen teilnahmen, hatte sich ein gewisses Gewohnheitsrecht im Hinblick auf die Sitzordnung herauskristallisiert. Für die Vertreter Lübecks, der offiziellen Vormacht der Hanse, waren natürlich stets Plätze vorhanden, und zwar für sämtliche Mitglieder der Delegation, zu der neben den Ratssendboten auch die Schreiber gehörten. Johanna nahm diese Rolle für ihren Vater ein, für Bürgermeister Brun Warendorp protokollierte ein junger Schreiber namens Jan Godecke, und manchmal war auch Bruder Emmerhart zugegen, der offiziell ebenfalls als Protokollant fungierte.
Allerdings nahm der umtriebige Priester und Mönch längst nicht immer an den Beratungen teil. Vor allem dann nicht, wenn er glaubte, dass ohnehin nichts Wesentliches besprochen würde oder die für bestimmte Belange wichtigen Ratssendboten einiger Städte noch gar nicht angereist waren. An solchen Tagen widmete sich der Mönch seinen Apotheker-Geschäften. So hatte sich Bruder Emmerhart in letzter Zeit mehrfach mit einem im Marzipanhandel aktiven Venezianer getroffen, der gegenwärtig in Köln weilte.
An diesem Tag wollte Bruder Emmerhart jedoch unbedingt an den Beratungen des Hansetags teilnehmen. Er vermutete wohl, dass die Anwesenheit der Sendboten des schwedischen Königs die Verhandlungen entscheidend beeinflussen könnte.
Aus einer Tasche, die sie bei sich trug, packte Johanna Pergamentbogen und Schreibzeug aus. Zumindest alle Beschlüsse mussten erfasst werden, damit es bei eventuellen späteren Unstimmigkeiten einen schriftlichen Beweis darüber gab, was denn eigentlich beschlossen und verkündet worden war.
Bei diesen Beratungen ging es längst nicht immer um große Politik oder Krieg und Frieden. Oft standen die vermeintlich kleinen Probleme des Fernhandels im Vordergrund. Behinderungen durch Zölle, die gegenseitige Verrechnung von Maßen, Gewichten und Münzen und unterschiedliche Auslegungen der auf den vorherigen Hansetagen getroffenen Beschlüsse wurden mit großer Ausführlichkeit besprochen. Aber im Hintergrund, das wusste jeder, wurde derweil schon darum gerungen, doch noch ein Bündnis gegen die Dänen zustande zu bringen.
Am Kopf der Tafel nahmen die beiden gleichberechtigten Kölner Bürgermeister Mathias Overstolz und Heinrich von der Ehren Platz; als Gastgeber dieses Hansetages oblag ihnen auch die Aufgabe, die Zusammenkunft zu leiten. Dass Köln sicherlich mehr Einwohner hatte als Lübeck, war kein hinreichender Grund dafür, zwei Bürgermeister zu wählen. Doch niemals wieder sollte jemand mit so machtvoller Hand über die Stadt herrschen, wie es früher die Kölner Bischöfe getan hatten, gegen die man sich mühsam die Freiheit erkämpft hatte. Aus diesem Grund vergab man das Amt doppelt, sodass jeder der beiden Amtsträger den jeweils anderen notfalls in die Schranken weisen konnte.
Abwechselnd eröffneten die beiden Bürgermeister die Beratungen, heute war Mathias Overstolz an der Reihe. Der gut genährte Mann in den mittleren Jahren, der sein Geld unter anderem durch den Weinhandel verdiente, hatte eine heisere, brüchige Stimme, die es ihm manchmal schwer machte, sich durchzusetzen. Das war nun umso schlimmer, als es bereits nach kurzer Zeit laut im Saal wurde.
Es war Reginald Schreyer, der Ratssendbote aus Soest, der sich schon wiederholt energisch zu Wort gemeldet hatte. Sein Nachname machte ihm alle Ehre. »Es war immer die Art ehrbarer Kaufleute zu verhandeln, anstatt mit Kriegskoggen und Landsknechten gegen fremde Festungen zu ziehen«, rief er. »Und wenn hier ein Bündnis gegen König Waldemar geschlossen werden soll, dann müssten die Befürworter bitte schön auch sagen, was sie das im Ganzen kosten wird und wem durch diese Pläne genutzt wird! Haben wir in Soest oder Dortmund etwas davon,
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