Die Kaufmannstochter von Lübeck
Lage entschärfte. »Für hungrige Mägen ist gesorgt!«, rief er mit einer so durchdringenden Stimme, die ihm zuvor wohl niemand zugetraut hätte. »Es werden Brot und Wein und gebratenes Rebhuhn im Saal nebenan aufgetragen, und die Zeit für eine Pause in den Beratungen sollte jetzt gekommen sein!«
Die Ratssendboten waren an allen bisherigen Beratungstagen im Rathaus bewirtet worden, allerdings zu einer deutlich späteren Stunde. Aber es war zweifellos ein kluger Schachzug, heute nicht damit zu warten, bis allen die Mägen hörbar knurrten.
»Das war das Beste, was man jetzt tun konnte«, raunte Moritz von Dören seiner Tochter zu. Schon strömten die ersten Teilnehmer aus dem Saal. Es waren vornehmlich Steher, denen ohnehin die Beine wehtaten und die ihren bisherigen Nachteil wenigstens dadurch in einen Vorteil ummünzen wollten, indem sie beim Bankett die ersten waren.
Johanna packte ihre Tasche mit den Pergamenten zusammen und hängte sie sich um. Diese Tasche würde sie nicht einen Augenblick aus den Augen lassen. Die schriftlichen Aufzeichnungen konnten am Ende mehr wert sein als ein Beutel voller Gold. Je länger die Verhandlungen währten, desto häufiger würde man sich nämlich auf das beziehen, was schon beschlossen worden war, und dann war es häufig entscheidend, welche Partei den eifrigsten Schreiber gehabt hatte.
»Wir sollten geduldig warten«, schlug Bruder Emmerhart vor. »Oder wollen wir uns mit diesen gierigen Wölfen um die Rebhühner balgen?«
»Gott bewahre uns davor«, sagte Johanna.
»Überlassen wir diesen streitlustigen Hungerleidern die Rebhühner«, schlug Bruder Emmerhart vor. »Vielleicht gibt es später die Möglichkeit, dass wir uns mit Süßem entschädigen.« Das volle Gesicht des Mönchs verzog sich zu einem Lächeln, das Johanna schon immer etwas merkwürdig, ja unheimlich gefunden hatte. Vielleicht lag es an der Narbe, durch die der Geistliche am linken Mundwinkel gezeichnet war. Angeblich stammte sie von einem Überfall auf seine Apotheke. Mehrere Männer waren in das Gebäude eingedrungen und hatten versucht, sich an den Zuckervorräten zu vergreifen. Bruder Emmerhart war dabei von einem der Täter mit dem Messer verletzt worden, als er versucht hatte, die Eindringlinge daran zu hindern.
Der Pater hatte diese Geschichte mehrfach erzählt, wobei Johanna schon als Kind aufgefallen war, dass sich die Einzelheiten dabei jedes Mal geringfügig unterschieden hatten.
»Von was für Süßigkeiten sprecht Ihr, Bruder Emmerhart?«, fragte Moritz.
»Von der Königin aller Süßspeisen natürlich – dem Marzipan. Es ist jemand in der Stadt, der behauptet, es mit ebenso zauberhafter Geschmacksnote herstellen zu können wie die Venezianer. Und ich finde, wir sollten ihn beim Wort nehmen, meint Ihr nicht?« Bruder Emmerhart wandte sich an Johanna. »Ihr seht mich so verwundert an, junge Frau.«
»Nun, es ist nichts weiter.«
»Sie wundert sich vermutlich, dass ein Mann, der den Weg der Enthaltsamkeit gewählt hat, so sehr dem Genuss verfallen kann, wie es bei Euch den Anschein hat, Bruder Emmerhart«, lachte Moritz.
»Marzipan ist ein Heilmittel«, verteidigte sich Emmerhart, und sein eigenartiges Lächeln verwandelte sich in einen sehr ernsten Gesichtsausdruck.
»Wohl eher ein Heilmittel für die Seele als für den Leib«, lachte Moritz.
»Wollt Ihr behaupten, dass nur der Leib Heilung benötigt?«, gab Bruder Emmerhart zurück. »Und davon abgesehen sagt die kaiserliche Apothekenordnung, was in solchen Häusern verkauft werden darf.«
»Um Euresgleichen die Pfründe zu sichern.«
»Um die Heilsuchenden vor Schaden zu bewahren.«
Das war ein alter Streit zwischen Moritz und Emmerhart, der immer wieder einmal aufflammte. Johanna konnte beinahe auswendig vorhersagen, welche Argumente als Nächstes kamen. Es war ein sich wiederholendes Ritual zwischen den beiden und wohl auch nicht wirklich ernst gemeint. Sowohl Emmerhart als auch Moritz war durchaus bewusst, dass sie beide bei den Geschäften mit Apothekenwaren prächtig voneinander profitierten und daher eigentlich keinen Grund hatten, sich zu beklagen.
»Redet nur weiter so!«, hörte Johanna ihren Vater sagen. »Dann begreift meine Tochter vielleicht, dass Mönche, Nonnen und Priester nicht ganz so heilige Leute sind, wie es scheint, und sie wird ihren Entschluss, ins Kloster einzutreten, vielleicht noch einmal überdenken.«
»Um Eurem Eigennutz zu dienen, werter Moritz von Dören?«, fragte Emmerhart schlagfertig
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