Die Keltennadel
im Gepäck hatte. Alle zum Museum gehörenden Gebäude waren hell erleuchtet, um den Rang dieser CD-Präsentation im irischen Musikkalender hervorzuheben. Becca de Lacys New-Age-Klanglandschaften hatten die Sängerin und Komponistin zu einem internationalen Star und zur Multimillionärin gemacht. Sie hatte seit fast fünf Jahren kein Album mehr veröffentlicht, und zusätzlich würde sie in Kürze auf eine Welttournee gehen. Gerüchte über einen künstlerischen Niedergang hatten ebenso die Runde gemacht wie düstere Spekulationen über den Lebensstil, den sie hinter den Mauern ihres Landsitzes in den Hügeln bei Dublin pflegte. Nachdem Jane ihren Kunstpelzmantel und den Hut an der Garderobe abgegeben hatte, hängte sie sich die Tasche mit dem Recorder über die Schulter und betrat den hohen Festsaal. Das typische dumpfe Rauschen ununterscheidbaren Stimmengewirrs schlug ihr entgegen, gelegentlich durchsetzt von lautern Lachen. Überall standen Grüppchen von Journalisten, Rundfunk und Fernsehberühmtheiten, führenden Vertretern der Musikindustrie und anderen Gästen herum, redeten, tranken und kauten an mundgerechten Happen. Janes Blick fiel auf riesige papierene Wandbehänge und freistehende Displays, auf denen farbenfrohe Mosaikkunst im Stile Gustav Klimts glitzerte und über einem großen Porträt von Becca de Lacys schönem Gesicht das Wort Byzanz – offenbar der Titel des Albums – in goldenen Buchstaben prangte. Der Name der Künstlerin lief senkrecht in roter Schrift an der Seite nach unten, das B war in einem keltischen Knoten mit dem ersten Buchstaben des Titels verschlungen.
Als sich Jane gerade ein Glas Rotwein von einem Tablett nahm, löste sich ein Mann in einer langen, schwarzen Jacke und Röhrenhose aus einer Gruppe, bei der er gestanden hatte, und stürzte auf sie zu. Mit seiner Hakennase und den abstehenden schwarzen Haaren erinnerte er sie an eine Saatkrähe beim Anflug auf ihren Körnertisch. Es war Raymond O’Loughlin, der Künstler. O nein, dachte sie, bitte nicht jetzt.
»Dass wir uns so bald wieder treffen«, sagte er und prostete ihr mit einem großen Glas Gin Tonic zu. »Der rustikale Look steht Ihnen.« Jane trug einen wadenlangen grünen Rock mit einem breiten dunkelbraunen Gürtel, weiche Lederstiefel im gleichen Farbton und eine weiße Bluse mit grünen und roten Stickereien. Sie hatte beschlossen, sich mehr herauszuputzen, als sie es sonst bei solchen Anlässen tat, weil sie sich dann selbstsicherer fühlte, wenn sie Becca de Lacy um ein Interview bat.
»Danke… nettes Fest, nicht? Sind Sie ein Fan?«
»Von Becca? O nein, nicht die Spur. Ich kann diese New-Age-Kacke nicht ausstehen.«
Jane versuchte es anders.
»Was halten Sie von dem grafischen Design? Ich nehme an, es stammt vom Cover.«
»Auch bloß wieder so ein Schwelgen in der Vergangenheit, ohne sie zu verstehen. Denken Sie mal nach – Klimt lebte vor hundert Jahren, Byzanz erlebte seinen Höhepunkt vor mehr als tausend Jahren, verdammt. Zu ihrer Zeit waren das echte Menschen, echte Orte. Das hier ist alles Oberfläche, es hat keine Substanz. Die Leute fürchten sich vor der Gegenwart, sie haben Angst, sich der Realität zu stellen, und sie tun so, als wäre die Vergangenheit noch weniger real. Das ist wie bei Nekrophilen – eine Leiche reagiert nicht, wenn man sie tickt, sie gibt keine Rückmeldung, man kann sie sich als alles vorstellen, was man will. Und dann erfinden wir interaktive Computertechnik, die uns eine Vorstellung von der Wirklichkeit liefern soll – was zum Teufel soll das alles?«
Jane musste weg von ihm, auch wenn manches, was er sagte, durchaus einen Sinn ergab. In diesem Moment gesellte sich Kara McVey zu ihnen. Im Gegensatz zu dem kantigen O’Loughlin hatte sie ein rundes, weiches Gesicht mit einer zierlichen Nase, Lippen wie Rosenknospen und großen, braunen Augen. Sie trug ein olivgrünes Kleid im Empirestil. Nachdem sie Jane begrüßt hatte, hakte sie sich bei O’Loughlin ein und begann ihn fortzuziehen.
»Ich hätte gern noch einen Drink, Darling, und dann musst du unbedingt mit George Masterson reden – er will, dass wir anschließend noch mit ihm auf eine Party gehen.«
Sie entfernten sich und tauchten in der Menge unter. Jane hielt nach Becca de Lacy Ausschau. Sie hatte sich in den letzten Jahren so gut wie gar nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen, allerdings war sie bei der einzigen Gelegenheit, bei der Jane sie getroffen hatte, zugänglich und freundlich gewesen. Ein
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