Die keltische Schwester
man diese Wassermassen sieht.«
»Hast du lange gewartet?«
»Nein, fünfzehn, zwanzig Minuten.«
»Hast du denn noch etwas länger Zeit, oder musst du gleich wieder weg?«
»Muss ich nicht, aber mir wird allmählich kalt. Ich bin nicht so abgehärtet wie du.«
Er lachte und zog sich das verschwitzte Tuch von der Stirn. Die dunklen Locken standen wirr von seinem Kopf ab, und er fuhr sich mit der Hand dadurch.
»Na, dann fahr zurück und zieh dir was Warmes an. Ich dusche inzwischen und mache dann den Kamin an. Wenn du wiederkommst, gibt es Essen und ein warmes Feuer. Einverstanden?«
Warum nicht, dachte ich. Bevor ich wieder mit Wulf essen ging, war sogar das besser. Auf der Hut sein musste ich sowieso bei beiden.
»Gut, ich komme. In einer Stunde etwa.«
Er nickte.
»Wo steht dein Auto?«
»Vorn am Parkplatz.«
»Ich begleite dich ein Stück. Ich muss noch etwas abdampfen.«
Er ging neben mir her und wies seitlich auf die Küste.
»Morwennas Haus steht noch, wie du siehst. Wenn du Lust hast, können wir sie am Wochenende besuchen. Wir bringen ihr einen Kouign Aman mit, die gute Alte ist nämlich ein Naschmäulchen auf ihre späten Tage geworden.«
»Wie kommt’s, dass du dich so um sie kümmerst? Hast du eine soziale Ader entdeckt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist meine Vermieterin. Hallo, was haben wir denn da?«
Ich sah in die Richtung, in die er deutete. Wulf, wenn ich meinen Augen trauen konnte. Und ein Mann in blauer Arbeitskleidung neben ihm. Sie schienen ein Schild aufzustellen.
»Sieht aus wie mein Kollege, der Projektleiter. Den anderen kenne ich nicht.«
»Aber ich, das ist Petit-Jean, der Adlatus der Gemeinde. Sorgt normalerweise dafür, dass die Touristen die Mülleimer benutzen, und stutzt die präfektoralen Hecken. Bisschen doof, aber willig.«
»Ein bemerkenswertes Gespann, wie mir scheint. Ich wusste gar nicht, dass Wulf sich um die Mülleimer der Mairie kümmert.«
»Das ist kein Mülleimer, das ist eine Anweisung.«
»Wenn du es sagst.«
Wir waren zu den beiden gekommen, und Wulf musterte uns mit leichter Irritation.
»Nanu, Lindis, was machst du denn hier? Und in was für einer Gesellschaft? Fraternisierst du mit den Eingeborenen?«
»Könnte ich dich genauso fragen. Was ist das?«
Ich sah mir das Metallschild an, das an einen Holzpfosten genagelt war.
»Baustelle! Betreten verboten!« Dafür reichte sogar mein Französisch.
Petit-Jean hatte den Pfosten mit einem schweren Hammer in den Boden getrieben, Robert fasste ihn mit beiden Händen, ruckte kurz und zog ihn wieder heraus.
»Nehmen Sie das bitte wieder mit. Hier ist keine Baustelle.«
Wulfs Gesicht war ein Foto wert. Ich hatte alle Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.
»Was fällt Ihnen ein? Wer sind Sie überhaupt? Lindis, kennst du diesen Mann etwa?«
Ich verspürte eine plötzliche Neigung zu leugnen.
»Na, Lindis, hat der Hahn schon dreimal gekräht?«
Unmöglicher Robert!
Mit einer Miene, die, wie ich hoffte, steinern war, antwortete ich: »Darf ich vorstellen, dies ist, auch wenn der Anschein vielleicht trügen mag, Herr Professor Dr. Caspary. Herr Daniels, Projekt-Manager bei KoenigConsult.«
»Der verrückte Museumsprofessor! Das hätte ich mir ja denken können. Was gibt Ihnen das Recht, hier Schilder zu demolieren?«
»Niemand. Aber es mag Ihrer Aufmerksamkeit vielleicht entgangen sein, dass Sie hier auf Privatbesitz stehen. Madame Keroudy sieht es nicht so gerne, wenn Unbefugte auf ihrem Land Baustellenschilder aufstellen.«
Die beiden Männer waren etwa gleich groß, aber Wulf sah in seinem dunkelgrünen Seidenblouson und den grauen Hosen erheblich gepflegter aus als der verschwitzte Robert in seinen Sportsachen. Trotzdem hatte ich irgendwie das nagende Gefühl, dass Robert eine lockere Überlegenheit ausstrahlte.
Petit-Jean nickte, als er den Namen der alten Dame hörte, das Einzige, was er wohl von dem Gespräch verstanden hatte.Er redete auf Wulf ein: »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Das ist das Land von der alten Morwenna. Sie ist Mère Keroudy!«
»Madame Keroudy kann mich mal!«, fauchte Wulf und machte auf dem Absatz kehrt.
»Was soll ich jetzt machen?«, fragte Petit-Jean.
»Nimm das Schild mit und richte Monsieur Callot meine Grüße aus.«
»Oui, Professeur!«
5. Faden, 5. Knoten
Ich begegnete Wulf im Hotel zum Glück nicht. Aber einer heftigen Auseinandersetzung stand jetzt wohl nichts mehr im Wege, das war mir klar. Spätestens am nächsten Tag, wenn er die
Weitere Kostenlose Bücher