Die Kenlyn-Chroniken 01 - Drachenschiffe ueber Kenlyn
schien, als drückte sie gegen eine unsichtbare, aber sehr massive Wand. Endriel probierte es und traf ebenfalls auf Widerstand: Das Feld summte und vibrierte unter ihrer Hand. Sie lachte (ein bisschen nervös, zugegeben) und flüsterte wieder: »Unglaublich«, wobei sie sich gleichzeitig fragte, wie oft sie dieses Wort noch gebrauchen würde, an einem Ort wie diesem.
Sie marschierten vorbei an einem Steingarten, in dessen Sand konzentrische Muster geharkt worden waren, vorbei an Sitzkissen, auf denen sich die Priester, Mönche und Adepten – Angehörige aller Hohen Völker – ausruhten und die Stille in sich aufnahmen. Es gab Dutzende, wenn nicht Hunderte von Gärten mit weichem, gesundem Gras und kleinen Bäumchen. Hier und da hingen kristallene Windspiele, jedoch stumm, da es keine Luftbewegung gab.
Ihr Weg durch die »Zweige« dieses Steinbaums führte sie Treppen hinauf, Treppen hinab, über Brücken und Terrassen und kein Weg glich dem anderen. Endriel, die sich eigentlich für ziemlich abgebrüht gehalten hatte, wurde eines Besseren belehrt. Es gab noch unendlich viele Wunder auf Kenlyn. All ihre Sorgen bezüglich Kai, des Schattenkults und der Weißmäntel waren für einen Moment vergessen und sie bewunderte die zerbrechliche Schönheit um sich herum.
»Ahhhh, ich bin viel zu lange nicht hier gewesen«, seufzte Xeah. Endriel und Nelen hatten keine Schwierigkeiten, mit dem langsamen Watschelgang der Draxyll Schritt zu halten. »Ich wusste nicht, wie sehr ich diesen Ort vermisst habe. Seht ihr den Turm dort drüben?« Sie deutete zu einem praktisch freischwebenden Bauwerk ein Stockwerk höher, das nur durch eine dünne Brücke zu erreichen war.
Endriel nickte. »Ja.«
»Dort habe ich die ersten Jahre meines Lebens verbracht, zusammen mit den anderen Kindern des Klosters.«
Endriel erinnerte sich, dass die Draxyll ein Findelkind war. Sie versuchte, sich die junge Xeah vorzustellen, die an diesem herrlichen Ort aufwuchs und keine andere Welt kannte als das Kloster in den Lüften, bis sie nach ihrer Weihe zum ersten Mal Fuß auf festen Boden setzte. »Wo sind wir jetzt, Xeah? Ich meine, geographisch?«
»Etwa sechshundert Kilometer nordöstlich von Kirall. Das heißt, das war die gestrige Position des Klosters. Wie du weißt, reist es ununterbrochen durch beide Hemisphären. Momentan bewegen wir uns wieder dem Äquator zu.«
»Was? Aber ...!«
»Beruhige dich. Es wird Wochen dauern, bis das Kloster die Südliche Hemisphäre erreicht.«
Endriel sah sich um. »Seid ihr auf dem Weg hierher verfolgt worden? Hat euch irgend jemand gesehen?«
Xeah bewegte den Kopf nach links, dann nach rechts. »Verfolger gab es keine. Ob man uns gesehen hat ... wer weiß? Gut möglich, dass alle unter unseren Füßen Bescheid wissen. Aber es bringt nichts, sich jetzt darüber Sorgen zu machen. Wie Suran gesagt hat: Solange wir uns in der Obhut des Klosters befinden, kann uns nichts passieren. Was geschieht, sobald wir ablegen, steht auf einem anderen Blatt.«
»Ich komme mir ziemlich schäbig vor, die Gastfreundschaft deiner Leute derart auszunutzen.« Endriel zuckte mit den Achseln. »Ich bin nicht einmal religiös!«
»Das musst du auch nicht sein. Eines der obersten Dogmen der Priesterschaft der Heiligen Prophetin ist es, denjenigen beizustehen, die um Hilfe bitten, ob sie nun gläubig sind oder nicht. Außerdem«, Xeah grinste und ihre Augen wurden ganz klein, »bringt es ein bisschen Aufregung in das Leben hier. Eine Prise Abenteuer.«
Endriel seufzte. »Trotzdem wäre mir wohler, wenn wir bald wieder aufbrechen könnten.«
Sie passierten ein weiteres Gärtchen, in dem Tauben nisteten. Irgendwo in der Ferne hörte Endriel einen Choral von menschlichen und nichtmenschlichen Stimmen und bekam eine Gänsehaut. Schon seit geraumer Zeit fragte sie sich, wie die Bewohner des Klosters es schafften, sich hier zurecht zu finden, aber dann sah sie die Wegweiser aus Messing, die alle paar Schritte angebracht waren. »Ich hab eine Menge über das Kloster gelesen«, begann sie. »Aber ich hätte es mir niemals so unglaublich vorgestellt.« Dir gehen langsam die Adjektive aus, Mädchen. »Stimmt es, dass es noch auf dem Saphirstern gebaut wurde?«
»Ja.« Xeah sah über die Schulter zu ihrer Menschenfreundin. »Dieses Gebäude ist über viertausend Jahre alt – fast so alt wie meine Religion. Die Heilige Prophetin hat es selbst gegründet, und im Laufe der Jahrhunderte ist aus einem einfachen Kuppeltempel dieses Kloster
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