Die Kenlyn-Chroniken 01 - Drachenschiffe ueber Kenlyn
ihm sich aufzurichten, so behutsam, als hinge sein eigenes Leben davon ab.
Fast jeder in der Halle hielt den Atem an. Einige Weißmäntel fingen an, leise zu beten, andere sanken augenblicklich auf die Knie. Der Anblick ließ niemanden ungerührt.
Endriel hatte die verängstigte Stimme gehört, die ihren Verstand streifte. Sie merkte nicht, dass sie ebenfalls weinte, als sie das uralte Geschöpf sah, das zitternd in Kais Armen lag wie ein ängstliches Kind.
Es war Yu Nan. Doch er war nur noch ein dünner Schatten des Sha Yang, dessen Eidolon sie begegnet war. Seine herrliche Perlmutthaut lag schlaff und matt an dem fast nackten Körper. Der Brustkorb schien nur aus Knochen zu bestehen, zusammengehalten von dünnem Pergament, und seine Schwingen hingen vom Rücken herab. Ein Netzwerk dunkler Adern durchzog das durchscheinende Leder.
Yu Nans einst glattes, schmales Gesicht war nun von tiefen Falten und Runzeln gezeichnet, die fast die schmalen, lidlosen Quecksilberaugen verdeckten. Die Weisheit und Würde, die sie dort gesehen hatte, waren nackter Panik gewichen. Sein weißes Haar war schütter geworden; es erinnerte an Spinnweben.
Der Anblick des sterbenden Sha Yang tat Xeah im Herzen weh. Sie wandte den Blick ab, während sie stumm Kerus Hand fasste. Seine riesige Pranke umschloss die stummeligen Finger der alten Heilerin. Er fühlte sich seltsam leer, als er das blasse Wesen betrachtete, das hinter dem Kraftfeld eingeschlossen war wie ein gehetztes Tier in einem Käfig. Jahre lang hatte man ihm eingeprügelt, die Sha Yang und ihre Anhänger zu hassen, und er hatte davon geträumt, sie zu jagen und ihre dürren Leiber mit seinen Krallen zu zerfetzen. Nun erkannte er, wie hohl dieser Hass gewesen war.
Er konzentrierte sich auf Shiaar, die nur Augen für Kais Mentor besaß. In ihrem Blick leuchtete Blutdurst, ihre Zähne waren gebleckt. Keru wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis man ihr und ihren Kumpanen den Befehl erteilte, zuzuschlagen.
» Wo sind wir, Kai? « Die Gedankenstimme des Sha Yang war ein kaum wahrnehmbares Flüstern, doch jeder in der Frachtsektion vernahm sie.
Kai holte tief Luft, sein Körper erbebte. »An Bord der Dragulia , Meister«, flüsterte er. »Die Friedenswächter haben uns abgefangen und an Bord gebracht. Sie haben mir befohlen, den Sarkophag zu öffnen, sonst hätten sie ihn gewaltsam aufgebrochen. Es tut mir leid. Ich habe dich enttäuscht.«
Yu Nan hob eine zerbrechliche Hand und strich ihm über die Wange. » Du hast getan, was du konntest. «
Kai konnte nicht antworten. Er weinte unverhohlen.
»Warum lasst ihr ihn nicht endlich in Ruhe?«, schrie Nelen in ihrem Käfig die Weißmäntel an. Ihre Finger legten sich um die Gitterstäbe. »Seht ihr nicht, dass er Todesangst hat?«
Da erwachte Endriel endlich aus ihrer Starre. »Hast du jetzt genug gesehen, Andar? Sein Leben hängt am seidenen Faden! Verdammt, willst du ihn hier sterben lassen?«
Telios hörte ihre Worte, aber er sah sie nicht an. Jede einzelne Sekunde zog sich endlos hin. Was er dort sah, war kein mystisches Wunderwesen. Es war ein uraltes Geschöpf, das der Tod fest in den Klauen hielt. »Das reicht, Bürger Novus. Legen Sie ihn wieder hin.«
Kai zögerte nicht. Vorsichtig bettete er Yu Nan wieder auf dem Schwerelosigkeitspolster des Sarkophages. »Ich werde tun was ich kann, meine Mission zu beenden, Meister!«
» Kai ... « Yu Nan legte die Hände auf seine nackte Brust. » Riskiere nicht dein Leben für mich .« Dann fielen dünne Lider über seine Augen. Kai fürchtete einen Moment lang, dass dies die letzten Worte seines Meister waren, doch mit unendlicher Erleichterung sah er, wie sich der dünne Brustkorb des Sha Yang hob und wieder senkte. Er zog den Deckel des Sarkophags zu und versiegelte das Artefakt mit Hilfe der Armschiene. Ein Piepen zeigte ihm an, dass der Vorgang abgeschlossen war. Bevor er sich Telios zudrehte, hielt Kai inne. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und holte ein paar Mal tief Luft. »Verstehen Sie jetzt, warum ich Ihnen nicht sagen konnte, wer er ist, Admiral?«
»Ja«, antwortete Telios abwesend. Ja. Nach allem, was er über den Kult und Novus’ Ansichten über Syl Ra Van wusste, verstand er es. Er nahm einen langen Atemzug, doch es half nicht gegen das Gefühl der Enge in seiner Brust. »Was haben Sie mit ihm vor, Bürger Novus? Was ist Ihre ... Mission?«
»Ich habe versprochen, ihn nach Hause zu bringen«, antwortete Kai hinter der nervtötend
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