Die Kenlyn-Chroniken 01 - Drachenschiffe ueber Kenlyn
so.«
»Du musst doch irgendwas angestellt haben, Affengesicht«, brummte Grao.
Kai entschied sich, ihnen die Wahrheit zu erzählen. Zumindest den Teil, den sie verstehen würden. »Ich bin ganz normal von Siradad hierher gesprungen und beim Nexus-Boulevard rausgekommen. Ich wollte ein Drachenschiff anheuern. Aber dann wurde ich plötzlich von der Straße gezerrt. Ein Draxyll griff mich an, doch dann hat ihn jemand abgelenkt, sodass ich entkommen konnte. Ein Mädchen.«
Ihr verdankte er sein Leben. Er erinnerte sich an große Augen in einem hübschen Gesicht, umrahmt von braunem Haar. Als der Kultist sie angegriffen hatte, war sie sofort in Kampfstellung gegangen. Er erinnerte sich an das, was sie ihm hinterher gerufen hatte, als er davon gelaufen war. »Endriel Naguun. So hieß sie.«
»Kenn ich nicht.« Ri-Yurs Horn tutete fragend.
»Warum hat der Kerl dir aufgelauert?«
»Ich weiß es nicht, Grao. Keine Ahnung.« Damit belog er die Kinder zum ersten Mal. Aber wenn sie erfuhren, wer er war und wer ihn verfolgte, würden sie ihn mit Sicherheit ganz schnell wieder loswerden wollen. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Die Friedenswächter sind noch mein geringstes Problem , dachte Kai. Egal woher: der Kult weiß, dass ich hier bin. Auch er wird Jagd auf mich machen. Und ich sitze hier unten und kann mich kaum bewegen! Selbst wenn er es könnte: Die Oberwelt war hermetisch abgeriegelt. Kai schloss die Augen. Jede Sekunde, die er hier unten vergeudete, brachte seinen Meister dem Tod ein Stückchen näher!
Bleib wach , beschwor er sich. Du darfst nicht einschlafen!
Aber seine Knochen waren wie Blei und seine Lider schwer, so schwer.
»Tja.« Orryn kratzte sich mit abgekauten Nägeln an der bemalten Wange. »Trotzdem musst du der alten Geistermaske ganz schön ans Bein gepisst haben, Mann.«
»Geistermaske?«
»Der Gouverneur«, erklärte Ri-Yur geduldig. »Seine königliche Oberhoheit Syl Ra Van.«
»Wie ist überhaupt dein Name?«, fragte Grao.
»Kai. Kai Novus.«
»Und was wirst du jetzt machen, Kai Novus?«
Er fuhr sich müde durch das wirre Haar. »Ich muss irgendwie aus dieser Stadt raus. Es ist sehr wichtig, versteht ihr? Jemand wartet auf mich!«
»Vergiss es.« Aus Orryns kindlichem Mund klang es doppelt grausam. »Nichtmal ein Furz kommt hier raus, solange die Weißmäntel da oben rumgeistern.«
»Angeblich ist die Mannschaft der Dragulia da oben.« Ri-Yur deutete zur Tunneldecke. »Man munkelt, die Geistermaske hätte sie extra mit der Suche nach dir beauftragt.«
»Du bist jetzt Freiwild, Affengesicht«, brummte Grao. »Genau wie wir. Ob’s dir gefällt oder nicht.«
Kai lehnte den Kopf gegen die Wand. Er schloss die Augen, ohne zu wissen, ob er sie je wieder aufbekommen würde. Er wollte etwas antworten, etwas wie: »Ich muss weiter, ich muss aus dieser Stadt heraus!«, doch die Erschöpfung rang ihn nieder und er glitt in einen schwarzen, traumlosen Schlaf, in dem die Schmerzen zu einem fernen Echo verblassten.
10. Große Pläne
»Göttliche Inspiration macht dich unsterblich – oder zum größten Trottel von Kenlyn.«
– unbekannt
Ein letztes Mal standen sie sich gegenüber und taten nichts anderes, als sich zu unterhalten. Kein Streit, keine Vorwürfe, nur eine Unterhaltung zwischen Vater und Tochter, an einem herrlichen Sommernachmittag. Die Monde zogen als wolkenweiße Flecken über einen perfekten Himmel. Warme Luft trug den Duft trockener Vegetation.
Gemeinsam wanderten sie durch die unendlichen Grasmeere, die ihr Haus umgaben, und erzählten einander von den Geschehnissen der letzten drei Jahre. Yanek berichtete, wie er seinen Dienst im Orden quittiert und zusammen mit Keru die Arbeit an der Korona begonnen hatte. Sonnenlicht leuchtete auf seinem kahlen Schädel. Die Strenge, die ihn zu Lebzeiten gekennzeichnet hatte, war fort. Er wirkte sanft und entspannt, ein friedlicher Mann in einer friedlichen Welt.
Endriel erzählte von ihren Diebeszügen mit Nelen und ihren zahllosen Reisen quer durch Kenlyn. Yanek war weder enttäuscht noch böse. Im Gegenteil: Er freute sich, dass sie erwachsen geworden war und ihr Leben selbst bestimmte. Irgendwann blieb er stehen und betrachtete seine Tochter lange. »Ich muss jetzt gehen, Endriel.«
Sie nickte schweren Herzens. »Ja. Ich weiß.«
Und da nahm er sie in den Arm. »Gib gut auf dich acht, hörst du?«
»Das werde ich.« Sie hielt ihn fest. »Leb wohl, Yanek. Grüß Tesmin von mir.«
»Egal was geschieht, lass dich nicht
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