Die Ketzerbibel
und hob triumphierend den Zeigefinger. «Ein Dokument, das von dieser angeblichen Bettlerin, dieser Danielle, mit eigener Hand geschrieben wurde, ein Buch …!»
Carolus blickte den Priester entgeistert an. «Ein Buch? Ich bitte Euch, zeigt es mir.»
Er folgte dem Priester zu seinem Haus nahe der neuen Kirche Saint Nicolas.
Der Abbé bewohnte ein zweistöckiges Haus aus gelbem Sandstein, zwischen dem Schloss und der Kirche, am Rand des Friedhofs gelegen. Geißbart wucherte über die Mauer des Friedhofs und verströmte seinen Honigduft. Dunkle Zypressen und wilde Rosen umrahmten den Eingang des Hauses.
Die Haushälterin öffnete ihnen. «Eine Erfrischung für Euren Gast, Hochwürden?» Aber er winkte sie ungeduldig fort. Nichts da, keine Erfrischung für diesen sehr jungen und unbedeutenden Medicus!
Im Studierzimmer nahm der Abbé ein Buch vom Tisch. Carolus erkannte es sofort an seinem Umfang, an dem verschossenen dunkelroten Ledereinband und dem eingeprägten und mit Gold belegten Symbol auf der Vorderseite, einer zusammengerollten Schlange, dem Zeichen für ewiges Werden und Vergehen. Carolus nahm dem Abbé das Buch ab und schlug es auf. Er war sich sicher jetzt. Es war ihre Handschrift, sie passte zu ihr: ungeduldig, großzügig, selbstbewusst.
«Passionibus Mulierum Curandum», sagte der Abbé überflüssigerweise.
«Das Buch gehört mir. Wie ist es zu Euch gelangt?», fragte Carolus.
«Es ist Eures? Aber man hat mir versichert – die Begine Gebba hat es mir mit einem Mann von der Stadtwache geschickt.»
«Ich hatte es Jeanne, der Infirmaria geliehen. Gebba muss es gestohlen haben. Es war nicht für sie bestimmt!»
Der Abbé war empört und verwirrt.
«Und Ihr behauptet, es gehört Euch? Wisst Ihr denn auch, was Ihr da auf Euch nehmt? Wisst Ihr, was für schmutzige Bilder und Rezepte es enthält? Anleitungen, Schwangere zu schneiden und die Frucht des Leibes mit Gewalt herauszuholen,auf unnatürlichem Wege?! Hexentränke! Weibliche Ränke und Betrügereien!»
«Lieber Abbé, Hochwürden, Ihr könnt das nicht wissen, und Euer Pflichtgefühl ehrt Euch. Aber ich versichere und schwöre Euch, hier steht nichts, was nicht von den medizinischen Fakultäten von Neapel, Bologna und Paris anerkannt und gebilligt wurde.» Das war, wie er wohl wusste, höchst zweifelhaft, aber auch schwer zu widerlegen. «Es ist ein Buch der Heilkunde, speziell für Frauen. Nicht zu Gewalt gegen Mutter und Kind fordert es auf, sondern es zeigt Methoden, beide zu retten.»
«Unnatürlich sage ich!», wiederholte der Abbé.
«Wenn Ihr Euch ein Bein brecht, ist es unnatürlich, es zu richten? Wollt Ihr dann lieber, dass man es so zusammenwachsen lässt, wie es gebrochen ist, und als Krüppel durchs Leben gehen?», gab Carolus zu bedenken.
«Aber …»
«Wenn Euch eine Schlange beißt, soll man Euch dann eines natürlichen Todes sterben lassen, der übrigens sehr schmerzhaft und langwierig wäre, oder soll man die Wunde reinigen und Euch einen ‹Hexentrank› geben, um Euch zu heilen? Hat nicht Gott in seiner Gnade, als er uns aus dem Paradies warf, gleichzeitig mit den Krankheiten auch die Kräuter dagegen wachsen lassen, auf dass wir uns ihrer bedienen und uns heilen?»
«Ja schon, aber …»
«Und was in dem Buch steht, ist auch gar nicht neu», fügte Carolus hinzu.
«Ist es nicht?»
«Nein, was hier steht, stammt von berühmten und erprobten Männern und von Hippokrates, dem größten aller Ärzte, nach dem wir uns heute noch richten», erklärte der junge Arzt.
«Er lebte in dunklen Zeitaltern, da Christus noch nicht geboren war, doch ich gebe zu, dass seine Ethik so hochstehend war, dass man sie ohne weiteres auf unser christliches Gedankengebäude übertragen kann. Thomas von Aquin hat das gesagt.»
«Da seht Ihr es. Und wenn ich Euch nun schwöre und versichere, dass in dem Buch nichts als anerkannte Kuren für Frauenleiden stehen, nichts, aber auch absolut gar nichts, was dem hippokratischen Eid widersprechen würde, wollt ihr die Sache dann fallenlassen und es mir zurückgeben? Diese Gebba ist doch nur ein unwissendes Weib, das alles falsch verstanden hat», sagte Carolus.
Kein Zauberbuch? Wie schade. Doch Abbé Grégoire gab sich geschlagen. Er hatte wenig Lust, als Trottel dazustehen.
«Es bleibt allerdings noch die Angelegenheit mit dem verschwundenen Kind. Dass Laura Vidal ihr Kind selbst hat verschwinden lassen, ist ja wohl ausgeschlossen. Es ist ehelich, und die beiden haben sich so sehr
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