Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)
seine Schulter zu werfen und in Sicherheit zu bringen. Nur war er nicht hier. Und selbst wenn er hier gewesen wäre, hätte er sie mitsamt all jenen Menschen, für die sie nun Verantwortung trug, niemals retten können.
14. Kapitel
A m zweiten Tag der Belagerung begann noch in der Morgendämmerung der Angriff auf die erste der zwei Vorstädte mit Namen Bourg. Hölzerne Türme wurden an die Mauern geschoben, sodass Fußsoldaten hineinklettern konnten, und Rammböcke stießen immer wieder gegen das Eingangstor. Auf den Festungsmauern von Carcassona platzierte Bogen- und Armbrustschützen des Vescomte vermochten die Eindringlinge nicht zu verjagen, da der Hauptangriff von einem zu weit entfernten Ort aus geführt wurde. Bereits zur hora tertia erschwerte heftiger Brandgeruch jenen, die noch in Sicherheit waren, das Atmen. Schmerzensschreie wurden so selbstverständlich, dass man sie zu überhören begann, ebenso wie das Hämmern der Fliehenden gegen das aus Notwendigkeit fest verschlossene Eingangstor zur Festung. Erst gegen Abend wurde es stiller. Man hörte nur noch das Wiehern und Blöken des Viehs der Belagerer, ihre lauten Stimmen, wenn sie sich um die Beute stritten. Manchmal schrien auch sie vor Schmerz, wenn ein von der Mauer aus geschossener Pfeil sich in einen lebenden Menschen bohrte. Adelind stellte mit Befremden fest, dass diese Schreie ihr ein Gefühl der Befriedigung schenkten.
Nach dem Fall der Vorstadt herrschte zwei Tage lang Ruhe, doch war Carcassona, einst beliebtes Ziel von Händlern aus aller Herren Länder, nun eine vor der Welt verschlossene Stadt. Zwar wurde auf den Märkten noch gefeilscht, doch wurden die angebotenen Waren weniger, die Stimmen der Handelnden umso schriller und aggressiver, als bereite dieses Spiel niemandem mehr Freude. Eines Morgens wurde der überdachte Wagen eines Getreidehändlers, der seine Waren bereits vor der Belagerung emsig gehortet haben musste, um später gute Gewinne zu machen, von einer zerlumpten Horde überfallen und umgestoßen. Niemand der Umstehenden griff ein, selbst die vom Stadtrat zur Wahrung der Ordnung bereitgestellten Büttel blickten zur Seite. Adelind hörte Gerüchte, dass auch ein paar recht vornehm gekleidete Herrschaften dabei gesehen worden waren, wie sie mit rasch über die Schulter geworfenen Säcken durch die Gassen huschten.
Dank der Sorgfalt der Männer des Vescomte waren alle von den Feinden in die Stadt geworfenen Tierkadaver sogleich verbrannt worden, damit es nicht zur Verbreitung von Krankheiten kam. Auch brennende Holzscheite, die über die Mauern geflogen kamen, hatten bisher kaum Schaden anrichten können, da sogleich Leute zur Stelle waren, die das Feuer löschten. Die Stadt war gut gerüstet, doch blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten, während weiter eine gnadenlose Sommersonne auf sie hinunterbrannte. Menschen strömten in Scharen zur Messe in die Kathedrale Sant Nazan und nahmen auch an Gebeten in der domus teil, um auf allen nur möglichen Wegen Gottes Segen zu erflehen.
Adelind begann des Nachts von Wäldern und Wiesen zu träumen, von unermesslicher Weite und von frischer, klarer Luft. Sie erinnerte sich, wie langweilig ihr das kleine Dorf Dun einst erschienen war, und staunte, dass ihre Wahrnehmung sich derart hatte ändern können. Nun verursachte die Enge der Gassen von Carcassona ihr Beklemmung, sie mochte die bedrückten Mienen seiner Einwohner nicht sehen und genoss die seltenen Momente der Einsamkeit. Mitunter suchten auch Albträume sie heim, in denen sie die Mauern der Stadt einstürzen sah, während brüllende Männer mit gezückten Schwertern über die Trümmer sprangen. Hildegard weckte sie, wenn sie im Schlaf zu schreien begann, brachte ihr einen Becher Wasser und schloss sie in die Arme. Es war Adelind nicht mehr möglich, ihre Schwester zurückzuweisen. Die Bedrohung, mit der sie alle lebten, schweißte sie wieder zusammen.
Nachdem das Wasser in den Brunnen erneut knapp zu werden begann, ging am sechsten Tag der Belagerung endlich ein heftiger Regenguss auf die Stadt nieder. Die Leute begannen vor Freude in den Gassen zu tanzen, streckten ihre schweißgetränkten Körper dem erfrischenden Nass entgegen, bis die Kleider schwer vor Nässe an ihnen klebten. Adelind ließ hastig Eimer und leere Fässer vor der domus aufstellen, um möglichst viel von der kostbaren Flüssigkeit einzufangen. Leider verstummte das Prasseln wieder, noch bevor die Luft wirklich abgekühlt war, und feuchtschwüle Hitze
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