Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)
das Gesicht, legte sich aber nieder. Olivette winkte Adelind zu sich.
» Kommt, wir gehen für eine Weile hinaus. Ich kann noch nicht schlafen. «
Adelind gehorchte. Sie kam sich vor wie ein seelenloses Bündel, das herumgeschoben wurde. Jede Auflehnung dagegen wäre ein Zeichen von Lebenswille gewesen, den sie sich eisern verbot.
Grillen zirpten, die Nacht duftete nach Pinien und Gras. Olivette wollte ihr einen verschrumpelten Apfel aufdrängen, den Adelind ablehnte, denn inzwischen hatte sie begriffen, dass eisernes Verweigern von Nahrung eine Möglichkeit war, aus dieser Welt zu fliehen. Hildegard wartete sicher bereits auf sie, in Gottes Reich hatte ihre Seele den himmlischen Körper wiedergefunden, aus dem sie nach dem Sturz der Engel verjagt worden war.
» Das hätte sie nicht gewollt « , sagte Olivette ohne weitere Erklärungen. Adelind begann alle Worte, die man noch an sie richtete, überflüssig zu finden. Sie hatte ihren Weg gewählt, er war schwer, aber sie würde ihm folgen.
» Wer hat was nicht gewollt? « , fragte sie dennoch aus Rücksichtnahme auf Esclarmondes Tochter, denn sie wollte nicht Olivette durch eisernes Schweigen strafen.
» Ihr habt mir einmal gesagt, dass meine Mutter sicher nicht meinen Tod will « , fuhr Olivette hartnäckig fort. » Ich habe Euch geglaubt, also glaubt jetzt bitte mir. Hildegard wollte nicht, dass Ihr Peyres verflucht. Und sie wollte auch nicht, dass Ihr Euch zu Tode hungert. «
Adelind richtete sich auf. Olivette war ein junges Mädchen, noch nicht einmal zur Perfacha geweiht. Es stand ihr nicht zu, derart kluge Reden zu führen.
» Zwischen meiner Schwester und mir herrschte eine Verbundenheit, die kaum ein Mensch verstehen kann, denn wir wurden beide am selben Tag geboren. Du kennst das nicht, also urteile nicht darüber. «
Olivettes Schultern krümmten sich für einen Moment, aber sie reckte gleichzeitig ihren Hals empor, sodass sie einem Geier zu gleichen begann.
» Ich mag ein unwissendes Mädchen sein, aber ich verstand Hildegard « , beharrte sie. » Ich mochte sie, denn sie war ebenso ängstlich wie ich und fühlte sich ständig von anderen Menschen verletzt, selbst wenn es völlig unangebracht war. Warum meint Ihr, lief sie nicht mit uns fort, sondern lockte die Männer weg? «
» Sie wollte für ihren Glauben sterben und mir dadurch ein Vorbild sein. Ich habe sie im Stich gelassen « , entgegnete Adelind ohne Zögern. Warum wollte Olivette das Offensichtliche nicht sehen?
Esclarmondes Tochter bohrte ihre Hände in den Boden, streckte die Arme und wurde dadurch etwas größer.
» Aber nein, sie lief fort, um uns alle zu retten. Versteht Ihr das denn nicht? «
Nun entfuhr Adelind ein wütendes Schnauben.
» Sie war meine Schwester. Ich kenne sie. «
Olivette lächelte nachsichtig.
» Ich kannte meine Mutter mein Leben lang, aber dennoch habt Ihr sie manchmal besser verstanden, weil Ihr einander ähnlicher seid. Hildegard war ängstlich, ebenso wie ich. Warum sollte sie sich von ihren Gefährten entfernen, wenn große Gefahr drohte? Sie wollte uns alle retten, das begriff ich sofort und bewunderte sie um ihren Mut. Sie war als Einzige erkannt worden. Wäre sie bei uns geblieben, dann hätten die Soldaten uns alle verfolgt und gefangen genommen. «
Adelind krümmte sich vor Schmerz. Sie wollte nicht an die letzten Momente erinnert werden, da Hildegard noch lebend vor ihren Augen gewesen war.
» Es war sicher Gottes Wille, dass auch ich verhaftet werde « , flüsterte sie. Als Olivette ihr auf den Rücken schlug, fuhr sie verstört auf. Gewalt passte so gar nicht zu diesem sanften, fügsamen Mädchen.
» Es ist anmaßend, Gottes Willen kennen zu wollen. Aber Hildegard wollte, dass Ihr lebt, begreift es doch endlich! « , sagte Olivette nun lauter und bestimmter, als sie jemals zuvor mit Adelind gesprochen hatte. » Sie erzählte mir selbst, dass sie Euch gegenüber unter Schuldgefühlen litt, weil Ihr viel aufgegeben hattet, um sie nicht im Stich zu lassen. In Carcassona wollte sie sich davon befreien und Euch gehen lassen. Sie hat es verdient, dass Ihr diesen letzten Wunsch erfüllt. «
Adelind starrte fassungslos, denn falls im Kopf ihrer Schwester tatsächlich solche Gedanken gelebt hatten, war vieles an Hildegard ihr unbekannt geblieben. Sie rieb sich die Schläfen, ratlos, was sie mit diesem neuen Wissen anfangen sollte, denn ihr war klar, dass ein im Glauben der ecclesia Dei erzogenes Mädchen wie Olivette nicht log.
» Wir sollten
Weitere Kostenlose Bücher