Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)
Aufmerksamkeit sicher gewesen, doch hier schritten die Leute achtlos an ihnen vorbei, ja schubsten manchmal und zogen dann murrend weiter. Sie hörte, wie der Klang von Flöten, Fiedeln und Gesang sich mit dem Geschrei der Händler und ihrer feilschenden Kundschaft zu einem Gewebe von Lauten zusammenfügte. Ein Stück neben ihr sprangen Hunde durch einen Reifen, den ein bunt gekleideter Junge hochhielt. Etwas weiter entfernt scharte eine Gruppe von Männern, die bunt aus Edelleuten, Handwerkern und Tagelöhnern zusammengewürfelt schien, sich um eine große blonde Sängerin. Auch Marcia würde es hier nicht so einfach haben, befand Adelind mit einer Häme, für die sie sich ein wenig schämte.
» Morgen ist Sonntag. Du wirst nach der Messe auftreten, denn da sind die Leute in der richtigen Stimmung für jemanden wie dich « , wies Peyres sie nun an. » Jetzt können Marcia und ich die bessere Unterhaltung bieten. «
Adelind gehorchte mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. Das Getümmel gefiel ihr, das konnte sie nicht leugnen. Sie gesellte sich mit Hildegard zu den Zuschauern, die der reizvollen, wenn manchmal auch derben Darbietung der blonden Spielfrau folgten. Mit ein paar Münzen, die Peyres ihnen großzügig überlassen hatte, erstanden sie einen Brotfladen und zwei Becher Gewürzwein an einem Stand.
» Sieh mal! « , rief Hildegard kauend. » Antonius hat nun auch Kundschaft. «
Tatsächlich gab es in einer großen Stadt wohl mehr Leute mit Zahnschmerzen. Auf dem Hocker, den Antonius vor sich aufgebaut hatte, saß nun ein glatzköpfiger Mann, dessen Bauch fast seinen Gürtel zu sprengen drohte. Seine linke Backe wölbte sich weitaus runder als die rechte, und er öffnete mit gepeinigtem Blick den Mund, damit seine Zähne befühlt werden konnten. Nach dieser Untersuchung nahm Antonius ein tönernes Gefäß und ein paar Kohlen aus seiner mitgebrachten Kiste. Simon besorgte ihm eine brennende Fackel, um die Kohlen zu erhitzen, sobald sie in dem Gefäß lagen. Anschließend wurden aus einem Sack Kräuter daraufgeschüttet. Sobald es dampfte, legte Antonius einen Deckel auf das Gefäß, der in einer spitzen Öffnung mündete.
» Bilsenkräuter verjagen Zahnwürmer « , erklärte er den Umstehenden und ließ den dicken Mann die Dämpfe einatmen. Danach befühlte er nochmals die Zähne des Mannes, dessen Augen in hoffnungsvoller Ergebenheit zu ihm aufblickten.
» Ein Zahn wackelt. Er muss gezogen werden, denn anders lassen die Würmer sich nicht mehr vertreiben « , verkündete er laut und sah seinem Kunden ernst ins Gesicht. Der Mann sprang auf, um wegzurennen, doch ein paar der Umstehenden schubsten ihn lachend zurück. Schließlich mischte eine kleine Frau mit sittsamem Schleier sich ein und redete dem Dicken gut zu, während sie ihn wieder auf den Schemel schob.
» Eine Weile werdet Ihr leiden, doch dann hat das Leiden ein Ende. Andernfalls wird die Qual immer schlimmer « , mahnte Antonius. Der Mann schloss die Augen, um nach einigem Zögern wieder den Mund zu öffnen. An seiner Seite begann die kleine Frau leise zu beten. Simon brachte einen großen Krug Wein, der dem Mann eingeflößt wurde. Dann stellte der alte Wahrsager sich hinter ihn und umklammerte seine Arme mit einem festen Griff. Antonius holte eine Zange aus seiner Kiste.
Adelinds Magen verkrampfte sich. Sie hasste es, Zeugin des Leids anderer Menschen zu werden, und hatte niemals den Drang verspürt, bei öffentlichen Hinrichtungen zuzusehen. Wäre Antonius nicht ein Mitglied der Truppe gewesen, wäre sie in das Getümmel geflüchtet, aber nun wollte sie mitbekommen, auf welche Weise er Geld verdiente.
Die Zange verschwand in der Mundöffnung. Auf dem schmächtigen Rücken des Zahnkünstlers bewegten sich Muskeln unter dem Leinenhemd. Er zerrte, während sein Kunde sich stöhnend aufbäumte. Simons Griff wurde stärker, und schließlich kamen ihm einige der Zuschauer zu Hilfe, die dem Dicken jede Hoffnung auf Flucht nahmen. Ein Schwall von dunkelrotem Blut schwappte aus seinem Mund, während Antonius weiter mit der Zange hantierte. Schließlich trommelte der Dicke verzweifelt mit den Füßen und schrie voller Qual, sodass er alles Treiben auf dem Marktplatz leise werden ließ. Adelind trat einen Schritt zurück. Der Fladen schmeckte ihr nicht mehr. Sie richtete ihren Blick auf die kleine Frau, die nun neben ihrem Gemahl kniete und mehrfach das Kreuzzeichen schlug. Wann war es endlich vorbei?
Sie spürte eine Bewegung an
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