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Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Tetzner
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auf Paul zeigen. Ihn aber würde man loben und bewundern und zehn Tage lang durfte er Sahnetorte essen. Paul aber mußte auf die Polizei und kam ins Gefängnis.
     
    Paul saß schon auf seinem Platz und schrieb, als Erwin in die Klasse trat. »Guten Morgen!« sagte er und sah Erwin prüfend an. Er dachte nur das eine: hat er es gesehen oder hat er es nicht gesehen? »Guten Morgen!« antwortete Erwin und zog seine Hefte heraus. ›Da sitzt er nun‹, dachte er, ›und tut, als wenn gar nichts gewesen wäre. Aber er ist ein Dieb, ich habe es selber gesehen. ‹ Erwin blickte Paul von der Seite an. So also sah ein Dieb aus. Erst jetzt fiel es ihm auf, wie mager er war. Er war auch sehr gewachsen, war fast so groß wie Erwin geworden. Wahrscheinlich bekam er nie mehr genug zu essen und war immer hungrig. Und plötzlich erschrak Erwin. Natürlich, deshalb nahm er auch die Brötchen. Er nahm sie aus — Hunger. Daran hatte er gar nicht gedacht. Doch wenn nun jeder, der hungrig war, einfach hinging und sich wegnahm, was er haben wollte, dann käme die ganze Welt in Unordnung. Dann konnte sich keiner mehr auf den anderen verlassen. Dann war nichts mehr sicher.
     
    Außerdem — überlegte Erwin — er würde überhaupt nie trockene Brötchen wegnehmen. Auch nichts anderes. Plötzlich wurde er rot. Er spürte richtig, wie es ihm heiß unter den Haaren herauflief. Nichts wegnehmen? Er hatte doch kürzlich erst aus der Dose ein Stück Schokolade weggenommen, das Mutter dort aufhob, und einige Tage vorher war er in die Küche gegangen und hatte sich vom Sonntagskuchen heimlich ein Stück abgeschnitten, weil ihn so danach gelüstete. Da hatte sein Vater hinterher zu ihm gesagt: »Was soll daraus werden, wenn man sich nicht mehr auf dich verlassen kann?« — Er mußte sehr schwer und tief atmen, während er weiterdachte. War das nicht genau dasselbe, was er jetzt zu Paulchen sagen wollte? Er durfte deshalb gar nicht hingehen und Paul anzeigen. Denn, würde es dadurch besser werden, wenn er Paul anzeigte und verriet? Freilich, Paul durfte auf keinen Fall weiter stehlen, das mußte ein böses Ende nehmen, so viel wußte er. Er war noch nie in einer so schweren Lage gewesen und wußte nicht, was er machen sollte. Außerdem fielen ihm wieder die zehn Stück Sahnetorte ein und der Ruhm, einen Dieb überführt zu haben. Aber Paul war doch sein Freund, pfui, daß er da noch an Sahnetorte dachte. Er spuckte dreimal aus und sagte so laut: »Pfui!«, daß Paul ganz ängstlich fragte: »Was ist denn los?« Aber Erwin gab keine Antwort. Er stützte seinen Kopf in beide Hände und dachte nach. Er hatte noch nie in seinem Leben so viel und so schwer nachgedacht. Der Lehrer war längst in der Klasse. Sie sollten rechnen. Aber Erwin paßte nicht auf und blieb immer stecken. Paul merkte, daß Erwin sehr verändert war. Er sah ihn kaum an. Er redete nicht mit ihm. Paul wurde immer unsicherer und ängstlicher. Es war also doch Erwins Stimme gewesen. Er hatte alles mitangesehen. Er wird hingehen und mich anzeigen. Vielleicht hat er mich schon angezeigt!
     
    Die Geschichte mit dem Magendurchleuchten fiel ihm wieder ein. Nicht einmal leugnen half dann. Die Polizei würde ihm in den Magen sehen und sofort wissen, daß er die Brötchen gegessen hatte. Als der Schulvormittag zu Ende war, hatte Erwin endlich auch zu Ende gedacht und wußte nun, was er tun würde. Er wollte Paul nicht anzeigen. Er wollte keine zehn Stück Sahnetorte, sondern er mußte Paulchen helfen. Sein Freund Paul durfte nicht schlecht werden.
     
    Der Polizeiwachtmeister Krummhahn war ein guter Freund des Bäckers Hennig. Sie gingen jeden Freitag zusammen kegeln. An manchen Tagen kam Krummhahn sogar während des Dienstes vorübergehend in den Laden, um seinem Freund guten Tag zu sagen und sich einige Brezeln oder Salzstangen für den Abend einzustecken.
     
    Vor einigen Tagen hatte der Bäcker seinem Freund erzählt, wieviel Semmeln in der letzten Zeit gestohlen wurden und daß er seinen Lehrling Gustav im Verdacht hätte. ›Nun‹, dachte Krummhahn, ›ich muß Hennig doch einmal fragen, was aus der Sache geworden ist.‹ Deshalb ging er an einem Vormittag, als sein Dienst zu Ende war, zu der Bäckerei. Da aber der ganze Laden voll Kunden stand, wollte er seinen Freund nicht von der Arbeit abhalten. Er nickte Hennig nur hinter der Fensterscheibe zu und bedeutete ihm mit Handbewegungen: »Laß dich nicht stören, ich komme nachher!«
     
    Während er im Hof vor den Hauseingängen

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