Die Kinder aus Nr. 67
Fleisch. Sie verstopften die Straßen und den Übergang. Für die Kinder war das lustig. Es geschah immer irgend etwas. Die Händler und Kutscher schrien sich gegenseitig an, wenn sie nicht weiter konnten. Die Straße war laut von ihnen. Die Autos tuteten. Die Bauern knallten mit den Peitschen. Sie fluchten und schimpften. Sie wollten alle zuerst kommen und ihre Waren verkaufen. Spaßig war es, wenn die Händler wild wurden.
Am Nachmittag, wenn sie wieder weggefahren waren, lagen an den Straßenrändern klebrige, blutige Papierfetzen, weggeworfene Reste, verfaulte, zertretene Mohrrüben und Kartoffeln. Danach roch die Straße. Danach rochen die Häuser und Zimmer. Die Kinder suchten sich aus den Abfällen, was sie brauchten. Sie spielten damit oder brachten es den Müttern. Vielleicht konnten diese es verwenden. Manchmal machten sie auch Geschäfte damit. Ein Junge vom Nachbarhaus hatte einmal eine ganze Wurst gefunden. Es war ein Wagen darüber gefahren, und man hatte darauf getreten. Aber man konnte sie noch essen. Auch damals, als der Obstwagen brach und die Birnen auf die Straße rollten, gab es ein Fest für alle Kinder in der Straße. Sie aßen um die Wette reife, weiche, zuckersüße Birnen. Hastig und unaufhörlich, und sie stopften sich Hosentaschen und Röcke voll. Hinterher waren die meisten krank. Sie aßen zu selten Obst. Im Hinterhaus ihrer Straße gab's nur das Nötigste: Brot, Kartoffeln, Kaffee und dann und wann einen Brocken Fleisch. Die meisten Väter waren arbeitslos und gingen stempeln. Wenn die Väter arbeitslos sind, gibt's für die Mütter noch weniger Arbeit und Verdienst. Die vollen Wagen, die zur Markthalle fuhren, waren für andere Leute bestimmt. Aber trotzdem war die Straße für die Kinder das einzige Vergnügen. Kann man vielleicht den ganzen Tag bei der Mutter in der Küche hocken? Solange Erwin noch kleiner war und die Mutter auch zur Arbeit mußte, hatte sie ihn mit seinem kleinen Bruder immer am Morgen in der Küche angebunden, damit kein Unglück geschah. Der Strick reichte weder bis zum Ofen noch bis zum Fenster, so konnten sie nicht herausstürzen oder sich verbrennen. Sie bekamen ein Stück Papier in die Hand, das sie zerknüllen durften, und einige Scheite Holz, die sie hin werfen und auf stellen konnten. Wie kleine Katzen oder Hunde lagen sie da und lauschten auf jedes Geräusch, das von der Treppe kam. Auf jeden Schritt und auf das Tropfen der Wasserleitung. Das war ihre Beschäftigung. »Geben Sie doch Ihre Kinder in einen Kindergarten, Frau Brackmann«, sagte die Frau Manasse vom Maskenverleihgeschäft aus dem Vorderhaus.
»Sie können gut reden. Es kostet Geld und Zeit, sie hinzuschaffen und abzuholen. Ist ja so viele Häuserblöcke weiter. Wo ich doch zu der Fabrik muß. Nach der anderen Seite.«
Und darum blieb Erwin die ersten vier Jahre seines Lebens angebunden, spielte mit Holzscheiten und Zeitungspapier und lauschte auf Schritte. Manchmal sah die Nachbarin nach ihnen und gab ihnen Brei.
Viel besser war's jetzt eigentlich auch noch nicht. Manchmal spielten sie im Hof und machten Wettspringen über die Mülleimer. Aber dabei mußte man sehr viel rufen und schreien. Wie hätte man sonst wissen können, wer am weitesten und höchsten sprang. Dann kam gleich die Portiersfrau oder der Alte selbst. Er riß das Klappenfenster auf und schrie: »Ich werd's dem Hauswirt sagen. Ihr sollt stille sein. Die Frau vom Maskengeschäft hat sich bereits beschwert.«
»Paulchen, die hat bestimmt den Alten mit Geld bestochen, nur damit er immer hinter uns her ist und sie Ruhe hat.«
Paulchen nickte dazu: »Klar, meine Mutter sagt det auch.«
»Sie hat ja so viel Geld. Und ganze Berge von Kleidern und Hüten hat sie in ihrer Stube. Wenn du das einmal, nur ein einziges Mal anziehen willst, dann mußte das teuer bezahlen und hundertmal kannst du so ein Kleid anziehen.«
Aber Erwin meinte, hundertmal sei zu wenig, tausendmal könnte man so einen Fetzen anziehen.
Mit der Frau Manasse vom Maskenverleihgeschäft war das überhaupt so eine Sache. Schimpfen war man gewohnt. Aber gestern hatte sie sogar einen ganzen Topf Kaffeewasser mitsamt dem Satz über die Kinder vom Hinterhaus ausgeschüttet. Dem Erwin ist die klebrige Brühe den Rücken heruntergelaufen. Wie ein Schwein sah er aus. Und ein Geschrei hat's gegeben. An alle Fenster im Hinterhaus sind Frauen und Kinder gekommen. Erwin hat pflichtschuldigst gebrüllt. Nicht weil's weh tat. Nur aus
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