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Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Tetzner
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Schreck und Wut. Seine Mutter hatte die Fäuste geballt. »Glauben Sie etwa, weil wir arme Leute sind, können Sie mit unsern Kindern machen, was Sie wollen? Ich werde mir beschweren«, schrie sie. »Sie haben gar kein Recht dazu. Det Kleiderzeug, det müssen Sie ersetzen. Jawohl, gar kein Recht haben Sie, meine Kinder mit Ihre Dreckbrühe zu begießen.«
     
    »Wohl habe ich das«, schrie Frau Manasse. »Ihre Kinder haben kein Recht, so zu brüllen. Kann man da schlafen? Es hat überhaupt Ruhe im Hof zu sein. Die Kinder sollen nicht im Hof spielen.«
     
    »Aber wo sollen sie denn spielen, die armen Kinder? Sollen sie vielleicht auf die Straße und von den Lastwagen überfahren werden?«
     
    Nein, die Straße war auch nicht das richtige. Erwins Mutter hatte recht. Auf der Straße kam jedesmal ein Schutzmann. Man konnte nicht einmal mehr mit der Nachbarclique spielen. Die hatten sich einen Fußball angeschafft. Den ganzen Tag spielten sie auf dem Bauplatz Fußball und wollten nichts mehr von ihnen wissen. Es war wirklich zum Weinen.
     
    »Wir müßten eben auch einen Fußball haben«, erklärte Erwin. Freilich sollten sie einen Fußball haben, das wäre besser als über Kehrichteimer springen, Abfälle aus den Straßenrändern suchen und schlechte Geschäfte mit ihnen machen oder immerzu warten, ob nicht endlich wieder ein Obstwagen zusammenbricht.
     
    In der Schule gab's einen Fußball. Der wurde jede Woche einmal aus dem Schrank geholt und dann wurde in Gegenwart des Lehrers eine Stunde lang Fußball gespielt. Wenn's am schönsten war, mußte man aufhören. Das war langweilig. Wirklich, ein eigener Fußball, das wäre so eine Sache gewesen. Knorke wäre das. Dann könnte man spielen, wann man wollte. Der Hauswart, die Händler mit ihrem Gemüse, all das könnte einem dann gestohlen bleiben. Ein Ort zum Spielen würde sich schon finden. Darüber konnte man später nachdenken. Das mußte ja nicht der Hof sein. »Dreckloch das«, Erwin spuckte aus. Aber — wo wollte man einen Fußball herbekommen? Das war nicht so einfach.
     
    »Schenken lassen!«
     
    »Denkste. Von wem?«
     
    Sie gingen alle Treppenabsätze des Hinterhauses ab. Jeder dachte an seine Familie. Fast alle Väter waren arbeitslos und gingen stempeln. Einige waren bereits ausgesteuert. Die Familien, die noch Arbeit hatten und Geld verdienten, die hatten wieder zuviel Kinder. Dann war das Geld deshalb knapp.
     
    Erwin dachte an seine Mutter. Sie saß in der Küche und machte aus altem Kinderzeug Windeln und Hemden. Vier Geschwister waren sie schon, und nun sagte Mutter, würden es bald fünf werden. Wenn's Mutter sagte, stimmte das immer.
     
    Erwin spuckte zum zweiten Male aus. Zu dumm! Warum mußten sie auch so viele Kinder sein! Wäre er allein da gewesen, hätte es vielleicht zum Fußball gereicht.
     
    »Was glaubste denn, was so ein Ding kostet?«
     
    Paul dachte nach. »Viel Geld.«
     
    »Wir könnten vielleicht mal in ein Geschäft gehen und fragen.«
     
    Paul kramte in seinen Taschen und holte neben Bindfaden, einer zerdrückten Streichholzschachtel, einem toten Käfer und einigen Nägeln, die er gesammelt hatte, einen Sechser. Er besah ihn sich von allen Seiten und steckte ihn wieder ein. »Zum Fußball langt det doch noch nicht«, sagte er. »Wir können so was Feines nicht kaufen. Wenn ich noch drei dazu finde, geh' ich ins Kino. Das ist wenigstens etwas!«
     
    Erwin schwieg. Wenn Paul »wir« sagte, dann war's aus. Bei »wir« ging's nicht weiter. Das war ein Ende. Eine Mauer, über die man nicht weg konnte. Das hieß: Hinterhaus, nicht spielen dürfen, angeschrien werden. Nie genug essen können, schlechte, geflickte Kleider tragen müssen, arbeitslos werden, Gerichtsvollzieher, Obdachlosenasyl. Sie sprachen nicht mehr von dem Fußball. Aber Erwin konnte ihn nicht vergessen.
     
    Sie sprachen viele Tage nicht von dem Fußball. Sie buddelten nur im Hof herum und suchten zwischen den Lagerhäusern einen Platz für eine Höhle. Aber nachts träumte Erwin vom Fußball. Alle Fenster waren plötzlich mit Fußbällen angefüllt. Fußbälle rollten vor ihm auf der Straße. Er rannte ihnen nach, wollte sie greifen, aber jedesmal kam ein Wagen und fuhr über den Ball, daß er zerplatzte. Er rannte einem anderen Ball nach, aber, gerade als er über die Straße lief, hob der Verkehrspolizist den Arm und sperrte die Straße. Der Fußball verschwand.
     
    Erwin wälzte sich im Schlaf von einer Seite auf die andere. Karlchen fing an zu wimmern

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