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Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Tetzner
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»Wat is denn los?«
     
    Willi ließ ihn eine Weile warten und musterte ihn. Dann sagte er: »Is ja gar keine Indianerin! Ihr seid schön angeführt.«
     
    Dann drehte er sich verächtlich auf dem Absatz herum und streckte Erwin die Zunge heraus.
     
    Erwin hatte nicht übel Lust, sich auf ihn zu stürzen. So eine Unverschämtheit. Was hieß denn das überhaupt?
     
    Aber Heiner zog ihn zurück. Willi war auch schon im Aufgang verschwunden.
     
    Für Frau Manasse begann in diesem Sommer 1931 eine ungewohnte, neue Zeit. Nun sollte sie also aufpassen, daß Schularbeiten gemacht wurden. Womöglich mußte sie auch noch die Geschichts- und Geographieaufgaben durchsehen. Geographie war ihr verhaßt. Sie wußte selbst nur noch, daß die Hauptstadt von Deutschland Berlin war, und sie wußte, daß ihre Geburtsstadt Kattowitz in Schlesien lag, und daß man heute keinen Kaiser mehr hatte, sondern einen Präsidenten. Aber das gehörte wahrscheinlich schon in die Geschichte. Alles andere war ihr gleichgültig. Nur rechnen konnte sie gut. Ihre Einnahmen und Ausgaben stimmten immer. Sie nahm sich darum vor, recht oft und viel mit Mirjam zu rechnen.
     
    Frau Manasse seufzte. Sie mußte ja obendrein auch daran denken, daß das Kind genügend aß, daß es nie zu spät ins Bett kam, daß es sich nicht verkühlte und daß seine Kleidung immer in Ordnung war, denn sie wohnten im Vorderhaus und gehörten zu den wohlhabenderen Leuten.
     
    Mirjam ahnte von Frau Manasses Sorgen nichts. Sie saß im Wohnzimmer auf dem dicken roten Plüschsofa und langweilte sich. Wenn sie nichts zu spielen hatte, mußte sie immerzu an Mama denken, und sobald sie an Mama dachte, stiegen Tränen in ihre Augen. Es war vielleicht besser, ein wenig mit Tante Mathildes Masken zu spielen, um nicht schon wieder weinen zu müssen. Mit diesen vielen Masken konnte sie vielleicht Märchen und Geschichten aufführen und Theater spielen.
     
    Sie wickelte sich eine braune Mönchskutte um, setzte einen Eselskopf auf, schrie: »Ihah, ihah«, und kroch auf allen Vieren durchs Zimmer auf Piddel zu, der entsetzt aufsprang und zu jaulen begann. Die Stange mit den anderen Tierköpfen kam ins Wanken. Der Ständer mit der prächtigen Ritteruniform brach krachend zusammen und die Rüstung bedeckte unverhofft den kläffenden Piddel.
     
    Frau Manasse riß die Tür auf. »Gott der Gerechte!« Sie lief herbei und hob den eisernen Ritter auf, um Piddel zu befreien.
     
    »Was soll das heißen? Meine Masken entzwei machen! Meine guten, teuren Masken! Sie sind doch kein Spielzeug, sondern ein Geschäft, ein gutgehendes Geschäft, das Kinder nicht anrühren dürfen. Kostet mein Geld und muß mir Geld einbringen. Wovon soll ich denn sonst leben? Geh in den Hof. Wir haben Kinder hier wie Sand am Meer. Sie machen einen entsetzlichen Krach. Sei du wenigstens ruhig. Beschmutze dir ja nicht dein neues schwarzes Kleid und komme nicht zu sehr in die Nähe der Mülleimer und beschmiere dich nicht an der Hauswand, der Vorflur ist frisch gestrichen, und rutsche nicht auf dem Steinpflaster aus, und sobald es kühl wird, komme herauf oder hole deinen Mantel, und vergiß die Essenszeit nicht und — na, nun geh schon.« Es fielen ihr wohl keine weiteren Ermahnungen mehr ein.
     
    Mirjam seufzte. Alle Erwachsenen waren gleich. Auch die Mama hatte immer so viel zu bedenken gehabt, was man tun durfte und was nicht. Freilich, so viel hintereinander in einem Satz war ihr nie eingefallen. Daß die Masken nicht als Spielzeug benutzt werden durften, betrübte Mirjam. Hoffentlich konnte sie wenigstens mit den Kindern spielen. Tante Manasse hatte ja gesagt, daß es viele Kinder hier gab.
     
    Der Hof war leer. Nur eine Katze lag neben dem Mülleimer und sonnte sich. Piddel stürzte mit großem Gebell auf sie zu.
     
    Aus der Backstube schaute Paulchen. Paul Richter lebte seit einigen Wochen beim Bäcker Hennig. Seine Eltern waren in eine kleine Laubenkolonie, unmittelbar am Stadtbahndamm, gezogen, aber sie war so feucht und modrig, daß Paul Gelenkrheumatismus bekommen hatte. Deshalb holte ihn der Bäcker Hennig zu sich und quartierte ihn neben der Backstube ein. Dafür übernahm Paulchen die Botengänge und trug Brote aus. Er hatte beschlossen, Bäcker zu werden, und hoffte, später ein eigenes Geschäft zu haben.
     
    Als Paul Mirjam sah, kletterte er eilig aus dem Fenster und kam neugierig näher. »Tag«, sagte er und verbeugte sich leicht. »Guten Tag.«
     
    Mirjam nickte nur. Sie hatte sich vorgenommen,

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