Die Kinder aus Nr. 67
»Jetzt Piddel, faß, faß, faß den Mann!«
Piddel stürzte vor und packte Paulchen am Bein, denn Mirjam hatte auf Paul gezeigt und nicht auf Erwin. Paul fand das schäbig, daß sie ihn fassen ließ. Erwin grinste zufrieden. Das zweite gefiel ihm schon besser.
Mirjam war noch nicht bereit aufzuhören. Piddel mußte noch springen und ihr Taschentuch apportieren.
»Außerdem nimmt er keinen Zucker, wenn man sagt: »Gift!‹«, erzählte sie, »aber er fängt ihn, wenn man ihn auf seine Nase legt. Obendrein habe ich ein Fahrrad. Ihr könnt es alle mitbenutzen, sobald ihr mich bei euch in der Clique aufnehmt.«
Sie hatte sich bemüht, so hochdeutsch wie nur möglich zu sprechen, um Anerkennung bei den Jungen zu finden. Die beiden schwiegen aber noch immer. Um noch einen Trumpf auszuspielen, rief Mirjam endlich: »Und dann wären ja auch noch die Masken zum Spielen da. Wenn ich Tante recht sehr bitte, leiht sie sie euch sicher für den Feiertag.«
Paul war völlig überwältigt von so viel Reichtum. Er begriff nicht, warum Erwin noch immer schwieg.
Aus der Backstube rief es: »Paule, Paule, Pauliken.« Er sollte Brot austragen.
»Tschüs«, sagte er traurig, »tschüs«, und trottete unlustig davon.
Erst jetzt trat Erwin auf Mirjam zu, ganz dicht, daß er ihr ins Gesicht sehen konnte. Ohne die Hände aus den Taschen zu ziehen, musterte er sie so lange, bis Mirjam erschrocken einen Schritt zurücktrat.
»Bist du eine Indianerin oder bist du keine?«
Mirjam überlegte nicht lange. »Ich bin keine Indianerin«, sagte sie leise. »Ich bin...«
Erwin winkte ab. »Schon gut, ich danke für Obst und Südfrüchte. Und deine Schwindeleien, mit denen du meinen Freund veralberst, kannst du dir künftig schenken. So was fängt bei uns nicht.«
Mirjam war ganz erschrocken. »Du hast doch selber...«
»Was hab' ich: Nischt hab' ich, gar nischt.«
»Du hast doch selber erzählt — und da wollten wir. . .«
»Wer wollte? Diese dämlichen Ziegen vielleicht, und der Emil, das Roß?«
»Ein bißchen Spaß wollten wir mit euch machen«, sagte Mirjam noch leiser. »Machst du denn nie Spaß?«
»Was ich mache, ist ja meine Sache«, brummte Erwin.
Eigentlich tat es ihm leid, daß er sie so grob anfuhr. Sein Vater sagte immer: Man darf seine schlechte Laune nie an anderen auslassen. Und gerade das tat er im Augenblick.
Nun gut. Mirjam wollte lieber nicht länger davon reden. »Aber das mit der Clique«, begann sie schüchtern aufs neue, »das überlegt ihr euch vielleicht trotzdem. Ich war daheim auch in einer Straßenclique, bei den ›Sieben Raben‹.«
Aus einem Fenster im vierten Stock ertönte ein schriller Pfiff. »Ach, du lieber Augustin...«
Als Erwin aufsah, lag Willi am Fenster und schwenkte eine Fahne. »Um fünf Uhr Versammlung«, brüllte er. »Heiner hat's verlangt, nicht ich«, setzte er hinzu, als er Erwins abweisende Bewegung sah.
Auch Emil erschien sofort neugierig am Fenster. »Was ist denn los?« rief er.
Auch Kurt von Langes, Erwins kleiner Bruder und Gerd Klein und die Teetzmanns und andere, die in unserer Geschichte nur eine Nebenrolle spielen, antworteten oder pfiffen von irgendwoher, um sich bemerkbar zu machen.
Hinter Emil guckten Marta und Lucie aus dem Fenster. Als sie Mirjam auf dem Hof sahen, winkten sie ihr, heraufzukommen. Mirjam ging und ließ Erwin stehen. Sie verstand sein Verhalten nicht. Sie dachte nach, ob sie ihn gekränkt haben könnte. Es war oft recht schwer, aus Jungen klug zu werden. Man wußte bei ihnen nie genau, woran man war. Mit Mädchen war das viel leichter. Sie beschloß darum, nur noch mit den Kindern aus ihrer Klasse zu spielen. Sie wollte auch nicht mehr länger Indianerin sein, selbst wenn Emil es von ihr verlangte. Erwin hatte sie doch schon durchschaut.
Als Paul hörte, daß Mirjam ihn verulkt hatte, war er wütend und schwor Rache.
Erwin sagte: »Ach, laß doch gut sein. War ja nur ein Spaß.«
Emil wollte alles recht ausführlich erzählt bekommen. Er rieb sich die Hände vor Vergnügen, weil Paul darauf hereingefallen war. Schade, daß Mirjam nicht gewartet hatte, bis sie alle dabei gewesen waren. Dann hätten sie doch den Spaß miterleben können und Pauls Verwunderung gesehen. Um wenigstens eine Genugtuung zu haben, gab Paul der Clique die Sache mit dem »Sternenhimmel« preis. Er schlug vor, Erwin von nun ab »Sternenhimmel« zu nennen.
Heiner
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