Die Kinder der Elefantenhüter
Terrassentüren aus dem Garten hereinfällt, so dass wir sogar jetzt noch, da die Sonne untergeht, alles deutlich sehen können. Aus dem Zimmer meiner Mutter dringt jenes Vibrieren, das in jedem Raum zu fühlen ist, in dem ein Flügel steht. In gewisser Weise also ist alles beim Alten. Trotzdem werden die Räume allmählich leblos.
Ich habe das zum ersten Mal entdeckt, als wir einst aus den Sommerferien zurückkehrten, und dann habe ich es wieder bemerkt, als wir irgendwo einen längeren Besuch gemacht hatten. Aber am meisten fiel es mir nach den zwei Monaten auf, als wir fort waren, weil sie Vater und Mutter festgenommen hatten und Urgroßmutter auf uns aufpasste, nachdem sie Bodil Nilpferd, die uns im Kinderheim Grenå deponieren wollte, den Schlagring unter die Nase gehalten hatte. Nach diesen beiden Monaten war der Pfarrhof drauf und dran, den Geist aufzugeben, und es hateine gute Woche gedauert, ihm wieder Leben einzuhauchen. Diesmal wird es genauso sein.
In dieser ernsten Lage sitzen Tilte und ich jeder auf seinem Sofa, sehen uns wortlos an und seufzen tief, ehe wir den Ort durchsuchen müssen, an dem wir geboren und aufgewachsen sind, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis zu finden, der uns auf die Spur unserer Eltern bringen könnte.
Ich möchte dieses kurze Verweilen gern dazu benutzen, ein paar Worte über Tilte zu verlieren.
Ich glaube, man findet nicht viele Touristen und vermutlich keinen einzigen Finø-Bewohner, die Tilte zu der großen Gruppe der sogenannten gewöhnlichen Sterblichen zählen. Weit die meisten sehen sie jedenfalls als eine Art Halbgöttin an, Tendenz steigend.
Dieser Gedanke stützt sich auf Ereignisse wie jenes Vertrauensgespräch in der fünften Klasse, zu dem Tilte mit unserer Mutter in die Städtische Schule eingeladen war. Ich war auch dabei, weil Vater Abendunterricht für Konfirmanden geben musste und ich nach einem unglücklichen Zwischenfall mit Kaj Molester Lander unter ständiger Aufsicht sein sollte. Im Auto hörte ich Tilte sagen: »Mutter, heute Abend werden sich die Lehrer über mich beklagen, und weißt du, warum? Weil sie sich von meiner großen Persönlichkeit erdrückt fühlen.«
Es war ihr voller Ernst, jedes Wort, und als wir ankamen und die Lehrer sagten, Tilte ziehe zu viel Aufmerksamkeit auf sich, in der Klasse sei sie aber wichtig, immer helfe sie anderen, nur fehle sie viel zu oft, selbst nach dem damaligen Standard, der angenehm locker war, weil die Behörden Ejnar Tampeskælver Fakir noch nicht in den Rücken gefallen waren. Als die Lehrer dies gesagt hatten,wurde Tilte von allen erwartungsvoll angesehen, damit sie sich vielleicht für ihr Schwänzen entschuldigte und zugab, dass wir das ganze Frühjahr über Möweneier gesammelt hatten. Aber Tilte entgegnete bloß: »Tja, vom Guten kann man halt nie genug kriegen.«
Sie sagte es ohne ein Lächeln, von Würde durchdrungen. Und diese kleinen Episoden haben bewirkt, dass Tilte in der Öffentlichkeit so hoch, vielleicht zu hoch eingeschätzt wird.
Es ist sehr wichtig, dass du die Dinge klarer siehst. Denn sonst begreifst du vielleicht nicht, dass die Fähigkeit, aus dieser eingeschlossenen Wirklichkeit einen Weg ins Freie zu finden, nicht nur Halbgöttern oder anderen unvergleichlichen Menschen vorbehalten ist. Sondern auch sympathischen und beliebten, zugleich aber vollkommen durchschnittlichen Typen wie dir und mir.
Und jetzt erzähle ich dir von Tiltes Trauer, damit du sie besser verstehst und einsiehst, dass sie zumindest teilweise genauso ist wie wir anderen auch.
Vor anderthalb Jahren wurde Tilte die Freundin von Jakob Aquinas Bordurio Madsen.
Ich weiß schon, was du jetzt sagen willst. Dass von allen saublöden Namen, die du im Leben gehört hast und die den Hörer mit unermesslichem Mitgefühl erfüllen für diesen Kinderschreck, der von seinen Eltern so getauft wurde, als er noch ein wehrloser Säugling war, von all diesen Namen schießt Aquinas Bordurio Madsen klar den Vogel ab. Aber es gibt eine natürliche Erklärung für den Namen, da Finø nämlich immer schon global orientiert gewesen ist, es hatte zwei Schiffswerften, die im 19. Jahrhundert einige der schnellsten Schoner und Teeklipper bauten, außerdem fand man es hier ganz normal, dass die Männer als Wikingeroder Leichtmatrosen oder Kapitäne oder Ladungsexperten oder als blinde Passagiere in die Welt reisten und dass die Frauen als Walküren oder Stewardessen oder Köchinnen oder Missionarinnen oder als Mata-Hari-Typen in die Welt
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