Die Kinder der Elefantenhüter
als Graf Danilo an. Die Inspiration dazu hatte er durch eine Berufung erhalten, die seiner Meinung nach unmittelbar von Gott kam.
Ich habe die Proben gesehen, weil Mutter das Amateurtheater musikalisch begleitete, und würde sagen, diese Berufung kann nicht von oben gekommen sein, sondern sie musste von dunklen Mächten stammen, die es auf Rickardt abgesehen hatten, denn diese Probe war etwas, das mich noch lange Zeit später in meinen Albträumen verfolgte.
Man sollte also seine Berufungen gründlich überprüfen. Ob Jakob das getan hat, weiß ich nicht. Ich kann hier nur vorsichtig darauf verweisen, dass er die innere Stimme vernahm, gleich nachdem er mit Tilte über ihre Verlobung und eine gemeinsame Woche im Ferienhaus gesprochen hatte. Und ohne jetzt Conny und mich zu erwähnen, kann ich dazu nur sagen, dass ich trotz meiner zarten vierzehn Jahre reichlich Gelegenheit hatte festzustellen, wie auffallend häufig Menschen gerade dann zu etwas Größerem und Besserem berufen werden, zu Berühmtheit oder Beförderung oder Aufstieg in die erste Mannschaft oder einem Leben im Dienste Gottes, wenn sie in ihrer Liebesbeziehung einen ordentlichen Spurt einlegen könnten.
Dazu möchte ich Urgroßmutter zitieren. Sie stand in ihrer Küche, kehrte uns den Rücken zu und putzte sich die Zähne, als Tilte von Jakobs Berufung berichtete. Es war gerade erst passiert, die Wunde war noch frisch, und Tilte konnte einem nicht in die Augen sehen, wenn sie davon erzählte. Urgroßmutter putzte ihre Zähne zu Ende, sie ist stolz auf ihre Zähne, sie hat noch etliche eigene im Mund und prahlt im Übrigen damit, dass sie einen Markknochen mit ihrem bloßen Kiefer zerlegen könne, weil er so hart wie Horn sei.
Als sie fertig war, ließ sie sich in den Rollstuhl fallen, manövrierte sich zu Tilte hinüber und blickte ihr in die Augen.
»Bei den meisten Liebespaaren hapert es daran«, sagte sie, »dass etwas zu wenig da ist. Aber manchmal ist auch zu viel da.«
Nun waren viele der Meinung, Tilte würde ganz fix wieder einen Neuen finden, aber nicht Basker und Urgroßmutterund Hans und ich, wir wussten genau, woher der Wind wehte. Na, und jetzt sind anderthalb Jahre vergangen, und Tilte ist immer noch allein.
Jakobs Abreise bedeutete für Tilte eine Wende in ihrer Art, wie sie den Menschen die Tür zeigte. Eine missionierende Wende. Ich sage es bloß. Auch damit du auf mich achtgibst. Wenn jemand einem etwas zeigen will, besonders etwas ganz Entscheidendes, und man spüren kann, dass er dafür brennt, dann muss man wachsam sein. Denn dann ist das Risiko groß, dass etwas nicht stimmt.
Jetzt habe ich von Tiltes Trauer berichtet. Damit du verstehst, dass wir nämlich beide, Tilte und ich, unsere einzige Liebe verloren haben. Wir sprechen darüber sehr selten, fast nie. Und trotzdem ist es immer gegenwärtig, ich merke es Tilte an. Selbst wenn sie auf Karneval in Rio macht und die Welt errettet, indem sie allen Menschen vor Augen führt, über welch große Tiefen sie verfügen, trägt sie doch im innersten Innern eine Trauer mit sich herum, die einen daran erinnert, dass auch sie ein ganz gewöhnlicher Mensch ist.
Wie gesagt, Tilte und ich sitzen im Zimmer meines Vaters, jeder auf seinem Sofa. Von hier ließen wir – während ich dich über Tilte aufgeklärt habe – den Blick durch den Raum schweifen. Ohne dass wir darüber auch nur ein Wort wechseln mussten, wissen wir beide, dass irgendwer das Pfarrhaus durchsucht haben muss. Und dass sie danach sorgfältig aufgeräumt haben, damit hinterher keiner sagen kann, es sei jemand da gewesen. Wir haben nämlich etwas gesehen, was nur sehen kann, wer hier ein Leben lang gewohnt und zweimal in der Woche saubergemacht hat, montags der kleine Durchgang und donnerstags das große Reinemachen mit Bodenschrubben: Mutters Flügel hat im Teppich Abdrücke hinterlassen. Das haben sie bemerkt und den Flügel exakt an seine alte Stelle zurückgeschoben, so dass die Räder wieder in den Vertiefungen stehen. Sie haben das kleine Barchenttuch auf den Deckel des Flügels gelegt und darauf Mutters zwei Geigen, so wie sie immer liegen. Aber sie wussten nicht, dass das Barchenttuch einen Kratzer im Lack verdeckt, der vor einigen Jahren entstand, als Mutter und ich die Fernbedienung für die Sopwith Camel testen wollten, die wir für den Großen Drachen- und Segelflugtag gebaut hatten. Und jetzt glänzt der Kratzer in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne.
Sie haben die gespitzten Bleistifte
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