Die Kinder der Elefantenhüter
allgemeiner Überzeugung auf Finø ein spirituelles Superschwergewicht ist, denn genau dann, wenn man verschnauft und sich auf seinen Lorbeeren ausruht, kann die normale Wirklichkeit sehr dünn sein und die Tür ganz in der Nähe.
Tilte und ich stehen mit Schweiß auf der Stirn und den Rücken an Bermudas Raumfahrzeug gelehnt und fühlen nach innen und blicken über den Marktplatz von Nordhavn. Auf der anderen Seite liegt der Global Player an den führenden Börsen der Welt, das Geldinstitut Finø Bank.
Die Idee kommt uns gleichzeitig. Wie gesagt ist es nicht ungewöhnlich, dass man am Anfang der großen spirituellen Reise nach innen ziemlich oft auf eine Idee stößt. Am besten sollte man die Idee dann loslassen und untersuchen, woher sie kommt. Aber unsere Idee ist so gut, und wir sind zugegebenermaßen leider so in Bedrängnis, dass ich den Kopf ins Auto stecke.
»Gitte«, sage ich, »wir haben Mutter und Vater versprochen, die Schulden für sie zu bezahlen.«
»Die Schließfachgebühr«, sagt Gitte. »Ihr Bankschließfach. Aber es ist Sonntag.«
Gitte ist eine entschiedene Dame. Bedenkt man, dass sie die Finø Bank leitet und einen Aschram am Laufen hält und einen Mann und drei Söhne hat, die Mitglieder der ersten Handballmannschaft des Finø Boldklubs sind, wo sie spielen, sich benehmen und aussehen wie Neandertaler, ist das Wort »entschieden« nicht einmal ausreichend. Ich würde sagen, Gitte ist eine Dame, bei der man, wenn sie sich nicht von der Stelle bewegen will, weil Sonntag ist, einen Kran einsetzen muss.
Da kommt der Kran: Tilte steckt ihren Kopf durchs Autofenster.
»Gitte«, sagt Tilte, »ich dachte, es gibt zwei Dinge auf der Welt, die nie außer Kraft gesetzt sind. Das eine ist das kosmische Mitgefühl. Und das andere die Fürsorge der Finø Bank für ihre Kunden.«
Die Tür der Bank ist mit zwei Schlüsseln verschlossen, außerdem muss Gitte den Alarm ausschalten, denn die Bank ist natürlich mit dem Finø Wachdienst verbunden, das beruhigt, im Falle eines Überfalls können es Kunden und Personal ganz entspannt sehen, Rettungs-John würde in höchstens einer Dreiviertelstunde am Tatort sein, mit seinen neonfarbenen Sicherheitsstiefeln und mit Graf Dracula.
Die persönlichen Schließfächer befinden sich in einem besonderen Safe, der groß ist wie ein Krankenhausaufzug und dessen Tür sich lautlos wie auf einem Luftkissen öffnet. Gitte hat kein Licht gemacht, vielleicht um die Nachbarn nicht zu beunruhigen, im Gegensatz zu uns Einwohnern von Finø-Stadt stehen die Nordhavner im Ruf, schreckhaft zu sein, aber die Straßenlampen spenden ja auch genug Licht.
Offenbar kann man Schließfächer in unterschiedlichen Größen mieten, einige wären groß genug für Schwiegermütter, in anderen fände die Streichholzschachtel mit den Verlobungsringen gerade noch Platz. Das Fach, das Gitte jetzt öffnet, hat die Größe einer Bilderbibel, ich stecke die Hand hinein und ertaste etwas Schmales und Hartes, das in einer Plastiktüte mit weißen Gummibändern verpackt ist.
Draußen erwarten uns Mitmenschen sehnsüchtig. Trotzdem bleibt Gitte stehen, sie möchte etwas sagen.
»Geht’s euern Eltern gut auf La Gomera?«
»Prächtig«, sage ich. »Sonne auf dem Bauch, eiskalte Margaritas und nackte Zehen am Strand.«
»Das muss schön sein. Mal rauszukommen. Man hat ja immer viel um die Ohren. Auch eure Eltern.«
Wir kennen Gitte Grisanthemum unser ganzes Leben, aber so haben wir sie noch nie gesehen. Dieser Augenblick ist still. Aber man soll das Stille nicht unterschätzen.
»Die Bank«, sagt sie. »Der Aschram. Die Familie. Alles nicht so einfach …«
Gittes drei Jungs werfen Tore, wie sie Luft holen. Aber Platzverweise und Verwarnungen regnen wie Konfetti auf sie herab, sie spielen, als nähmen sie an einem bewaffneten Kampf teil, ich habe nie recht verstanden, warum, immerhin sind sie mit Yoga und Darmspülungen und Bildern von Göttern mit Elefantenrüssel aufgewachsen. Aber in diesem Moment wird etwas sichtbar, das ich nie zuvor gesehen habe, und was da auftaucht, ist der Elefant in Gitte. Und mir kommt die Idee, dass vielleicht ein Elefantenhüter den andern erkennt, vielleicht hat Gitte etwas bei unsern Eltern gesehen, das sie wiedererkennt.
Sie will noch was sagen, aber irgendetwas hält sie zurück. Sie schiebt die Schließfachtür zu.
Wir fahren aus Nordhavn hinaus nach Süden und über den Nordsand, der eine gigantische überwachsene Düne ist und derart hohe Böschungen
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