Die Kinder der Elefantenhüter
sich geht. Zu behaupten, sie empfange, direkt durch die offene Tür, eine göttliche Erleuchtung, wäre vielleicht übertrieben, und nach all dem, was unsern Eltern und Jakob Aquinas widerfahren ist, und nach Rickardt Tre Løvers Versuch, die Hauptrolle in der Lustigen Witwe zu ergattern, gehen wir mit der Frage nach dem Ursprung der großen Ideen äußerst vorsichtig um. Trotzdem möchte ich behaupten, dass das, was ich da durch Tilte hindurchströmen spüre, zumindest eine hohe Vision ist.
»Gitte«, sagt Tilte, »jetzt musst du uns den Rücken stärken.«
Gitte kann gar nicht mehr antworten, Tilte fasst sie an der andern Hand, und wir drei pflügen uns durch die Menschenmenge, bis wir vor dem Grafen Rickardt und Kalle Kloak alias Charles de Finø stehen.
Tilte lässt Gitte los und reicht dem Gastgeber die Hand.
»Tilte«, stellt sie sich vor. »Tilte d’Ahlefeldt-Laurvig Finø. Und mein Bruder, Peter Graf d’Ahlefeldt-Laurvig Finø.«
Mein Hirn setzt aus. Für mich ist Tiltes Unternehmen gleichbedeutend mit einem Selbstmordversuch. Immerhin stehen vor uns: Graf Rickardt, ein intimer Freund, sowie Kalle Kloak, der uns zwar nur einmal gesehen hat, aber das ist kein halbes Jahr her und da waren wir nicht adlig, sondern Lotterielosverkäufer zugunsten des Finø Boldklubs.
Weshalb zu erwarten steht, dass wir augenblicklich entlarvt und in die Nacht hinausgeführt werden und jede Chance verspielt haben, Finø vor Mittwoch, wenn die planmäßige Fähre ablegt und alles zu spät wäre, verlassen zu können.
Was sich nun vor unseren Augen abspielt, ähnelt zunächst einem Wunder, nicht einem à la Mutter und Vater, sondern der echten Ware, bekannt aus dem Neuen Testament oder den Veden oder einzelnen Stellen im Buddhistischen Kanon, der übrigens etwas geiziger an Mirakeln ist als die anderen Religionen.
Es geschieht nämlich Folgendes: Kalle Kloak küsst Tilte die Hand.
Man muss natürlich dazusagen, dass Tilte ihm die Hand schon so gereicht hat, als erwartete sie nichts anderes. Und wenn Tilte etwas auf die Weise hinhält, es könnte auch ein Kuhfladen sein oder eine Pizzaschaufel, gehorchen die Leute.
» Die Ahlefeldt-Laurvig?«, fragt Charles de Finø.
» Die Ahlefeldt-Laurvig!«, antwortet Tilte.
Ich blicke in Kalles Augen und sehe viel darin, Beklommenheit, Glückseligkeit, Überwältigung, aber kein Wiedererkennen. Und ich erahne allmählich die Genialität von Tiltes Plan. Wenn man sich den tiefsitzenden Dingen im Menschen zuwendet, wird der gesunde Menschenverstandausgeschaltet, und was in Kalle Kloak sehr tief sitzt, ist der Wunsch, den Adligen nahe zu sein.
Natürlich meldet sich nun die Frage, wie Tilte sich eigentlich gedacht hat, von hier aus weiterzukommen, allerdings wird die Antwort verschoben, denn nun geht etwas mit Graf Rickardt vor sich. Von dem Moment an, in dem er Tilte und mich erblickte, hat er ganz still gestanden, wie Menschen halt still stehen, wenn auf ihr Nervensystem eine Breitseite abgefeuert wird. Aber jetzt findet er die Sprache wieder.
»Pfui Teufel, igittigitt!«
Erst denk ich, jetzt verliert er die Maske, jetzt platzt er mit allem heraus und verpfeift uns, und die Schlacht ist verloren. Aber dann folge ich seinem Blick. Nicht uns gilt sein Ausbruch. In der Tür zum Saal steht Thorlacius-Drøbert. Und gleich hinter ihm die Bischöfin des Bistums Grenå, Anaflabia Borderrud.
Wie es derart offenkundig suspekten Zeitgenossen gelingen konnte, so fix wieder freigelassen zu werden, ist ein Geheimnis für sich. Und uns bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Kalle Kloak strahlt mehr denn je.
»Der Professor!«, ruft er aus. »Und die Bischöfin! Sie nehmen an der Synode teil. Als Vertreter der Volkskirche und der Naturwissenschaft.«
Tilte und ich handeln wie ein Mann. Wir sind eben eine gut eingespielte Familie, ich sagte es schon, und dann gilt es, das Feld in seiner ganzen Länge und Breite zu überblicken, den Überblick hab ich, und ich habe gesehen, dass es nur eine Tür gibt, aus der wir rechtzeitig entwischen können.
Rechtzeitig heißt, bevor Thorkild Thorlacius und Anaflabia uns entdecken. Und nicht nur sie. Denn hinter ihnenkommen Lars und Katinka in Sicht, und obwohl sie Hand in Hand gehen und ihre Augen leuchten, da sie in der Entwicklung ihrer Liebe wichtige Schritte getan haben, seit Tilte und ich ihnen vor ein paar Stunden zu dem entscheidenden Date unterm Akazienbaum verholfen haben, hat all dies ihrer Wachsamkeit keinen Abbruch getan, ihr
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