Die Kinder der Elefantenhüter
Habichtblick scannt den Saal, und ich wette eins zu zehn, dass sie uns suchen.
Die Situation hätte echt schiefgehen können. Aber im selben Augenblick legen der Lama Svend-Helge und Sindbad al-Blablab einen Beweis ihres einzigartigen Mitgefühls und Instinkts ab, denn mit unauffälliger Bewegung versperren sie Katinka und Lars und Thorkild Thorlacius und Anaflabia Zugang und Sicht in den Saal.
Tilte und ich, wir ducken uns und schwimmen hundert Meter unter der Wasseroberfläche des Menschenmeeres. Dann sind wir aus der Tür.
Wir gelangen in einen halbdunklen, kühlen Raum, schwerer Essensgeruch hängt in der Luft. Aus dem Dunkel treten die Umrisse von Anrichtetischen hervor, darauf Gerichte, die das Buffet ergänzen, daneben Bier- und Mineralwasserkästen und Batterien von Weinflaschen. Auf einem anderen Tisch liegen Stapel von Stoffservietten. Und auf einem dritten liegt etwas anderes, ich hebe es an und falte es auseinander, es ist Stoff. Kein gewöhnlicher Stoff, sondern der, aus dem die Gardinen in Finøholm gearbeitet sind und der schon vor einem der beiden Fenster des Raumes hängt; es ist ein Stoff zwischen Zelttuch und Theatervorhang.
Die Gardinen vor den Fenstern sind mit vergoldeter Flaggenleine und golddurchwirkten Quasten gesäumt, die so groß wie Malerquaste sind. Aber offenbar ist der Gardinenmonteur vor dem abendlichen Gelage nicht ganz fertig geworden und hat eine Rolle Stoff liegenlassen. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass der Monteur mit Herman Molester Lander von der Gardinen- und Plissémontage Finø identisch war, unser Nachbar und Vater von Kaj Molester, was Grund genug wäre, dass ihn am Ende des Nachmittags die Sorge beschlich, ob sein Haus noch steht, worauf er alles stehen und liegen ließ und nach Hause eilte.
Mir ist klar, dass jetzt schnell gehandelt werden muss, und da Tilte noch in ihre Inspiration vertieft ist, bin ich gefordert.
Ich wage die Behauptung, dass Aschenputtel als Auftakt für ihre Begegnung mit dem Prinzen, mit dem sie glücklich bis ans Ende ihrer usw. lebte, von den kleinen Tieren keine bessere Behandlung erfuhr als Tilte nun von mir. Ich wickele ihr einen Turban und eine Art römische Toga um, Gardinenmeister Lander ist glücklicherweise so konfus gewesen, dass er sowohl die Schneiderschere als auch die Sicherheitsnadeln dagelassen hat. Dann winde ich auch mir einen Turban und eine Art langes Kleid, und schließlich schneide ich Tilte einen Schleier zurecht, von dem inneren Stoff, der dem Fenster am nächsten ist und irgendwo zwischen Krankenhausgaze und Fischernetz liegt.
Wir sind bis zur Unkenntlichkeit verwandelt, es hat keine fünf Minuten gedauert, und in diesem Moment geht die Tür auf. Vor uns steht der Gastgeber, Unternehmer, Folketings-Mitglied und Gutsbesitzer Charles de Finø.
Eine schwierige Situation, aber Tilte surft weiterhin auf einem Strom glücklicher Einfälle.
»Wir hatten gehofft, Sie würden kommen«, sagt sie.
Kalle Kloaks Augen haben sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, aber er erkennt Tiltes feine Stimme.
»Fräulein Ahlefeldt-Laurvig!«
Dann bemerkt er unsere Aufmachung, und man spürt eine gewisse Verwirrung.
»Wir repräsentieren die Advaita-Vedanta-Gesellschaft auf Anholt«, sagt Tilte. »Eine der höchsten, undogmatischen Meditationsformen der Welt.«
Advaita Vedanta ist auf Finø und dem Festland natürlich allgemein bekannt, nicht zuletzt durch Ramana Maharschi, dessen Konterfei in vielen dänischen Teenagerzimmern hängt, somit sollte also alles klar sein. Kalle entspannt sich.
»Wir möchten mit Ihnen über etwas Wichtiges sprechen«, sagt Tilte. »Etwas äußerst Wichtiges. Das ist der zweite und entscheidende Grund unseres Kommens. Aber wir müssen darauf bestehen, dass es zutiefst vertraulich bleibt.«
Kalle Kloak nickt. Seine Augen haben, ich würde sagen, einen vakanten Ausdruck angenommen, ein untrügliches Zeichen, dass er allmählich von Tiltes Atmosphäre aufgesogen wird.
»Mein Bruder und ich«, sagt Tilte, »und unsere Eltern, wir beschäftigen uns zu Hause auf Schloss Anholt intensiv mit einem Phänomen, von dem erst wenige Menschen in Dänemark wissen. Wir nennen es die ›verborgene Aristokratie‹. Die Idee ist, dass es in den großen Adelsgeschlechtern eine lange Reihe außerehelicher Kinder gegeben hat, Kinder, die im Grunde ein Recht auf ihren Titel gehabt hätten. Aber die Familien haben versucht, das zu vertuschen. Um die schwindelerregenden Reichtümer zusammenzuhalten. Aber
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