Die Kinder der Elefantenhüter
von dem weiterzugeben, wasman sich im Retreat erworben hat. Zum Tsok darf man gern Alkohol trinken.«
Auf diese Bemerkung gehen Tilte und ich nicht näher ein. Nur etwas ist gewagter als die Begründungen für die Gesetze der Weltreligionen, das sind die Begründungen dafür, dass man sie bricht.
»Wir sind immer noch sanftmütig«, sagt Tilte. »Aber unsere Sanftmut ist ein bisschen insistierender geworden.«
Wir stehen auf dem Achterdeck und schauen zu, wie Finø im Meer versinkt. Man muss sich ein bisschen das Hirn durchlüften lassen, wenn man eben herausgefunden hat, dass die eigenen Eltern darauf lossteuern, Kruzifixe für eine Milliarde Dollar mitgehen zu lassen plus das, was sie sich sonst noch alles unter den Nagel reißen wollen. Der Mond hat sich hervorgewagt, und wir sehen die Insel wie eine lange, dunkle Erhöhung mit einzelnen Lichtflecken und ab und zu dem fegenden Scheinwerfer des Nordleuchtturms, und dort an Deck wird mir plötzlich bewusst, dass Tilte und ich nie mehr zurückkehren werden, und das hat damit zu tun, dass wir bald erwachsen sind.
Jetzt wirst du vielleicht sagen, darf doch wohl nicht wahr sein, der Junge ist vierzehn und das Schwesterchen sechzehn, was stellt denn der sich vor, und hat er sich gedacht, auf der Straße zu wohnen, aber lass mich kurz erklären: Es gibt viele, die ihrem Elternhaus niemals auf Wiedersehen gesagt haben. Ganz viele davon sind auf Finø geboren, früher oder später kommen sie zurück und wenn nicht, dann treten sie in die jeweilige Ortsgruppe des Finøer Heimatvereins in Grenå, Århus oder Kopenhagen ein und gehen in Tracht zu den Donnerstagstreffen und tanzen zu den Tönen des Finømenuetts in strohgefütterten Holzschuhstiefeln. Und das gilt nicht nur für Finø. Überall sehnen sich die Menschen dorthin zurück, wo sie geboren sind, aber inWirklichkeit sehnen sie sich womöglich gar nicht nach dem Ort, soll es doch etliche historische Beispiele aus den letzten zweihundert Jahren geben, dass sogar auf Amager geborene Menschen sich dorthin zurückgesehnt haben!
Ich habe den Verdacht, dass es sich um etwas anderes handelt, nämlich Mutter und Vater. Die dänische Familie hat eine Kehrseite, und auf der Kehrseite ist Kleister. Sehr deutlich wird das beim Fußball, wie oft hat man achtzehn-, neunzehnjährige Spieler der ersten Mannschaft gesehen, deren Mutter und Vater schreiend an der Seitenlinie stehen, und Klein Frigast rennt sich die Lunge aus dem Hals, und man denkt: »Hallo, was geht hier ab, will er Papa und Mama auch auf den Lokus mitnehmen?«
Aber Tilte und ich, wir stehen hier auf dem Achterdeck und spüren die Freiheit, das ist das Interessante dabei. Das kommt daher, dass wir unsere Eltern verloren haben, und das ist schrecklich, man stelle sich vor, ein Junge von vierzehn Jahren, ganz allein gelassen. Es ist, als wenn einem der Teppich unter den Füßen weggezogen worden wäre. Aber es gibt ja eine interessante Möglichkeit, die selten genannt wird: Wenn der Teppich erst mal weg ist, hat man zum ersten Mal die Chance herauszufinden, wie sich das Stehen auf nacktem Boden anfühlt, und es fühlt sich ziemlich gut an, natürlich abgesehen davon, dass wir hier nicht auf der Erde stehen, sondern dem Schiffsdeck der Weißen Dame .
Es versteht sich von selbst, dass man einen solchen Augenblick zu seinem nie pausierenden spirituellen Training nutzen soll, und ich würde sagen, unser Training erlebt in diesem Augenblick goldene Tage, denn plötzlich sind wir niemandes Sohn oder Tochter oder kleiner Hund mehr, wir schweben nur über dem Meer der Möglichkeiten, und ich sage dir, das ist erschütternd, aber auch berauschend.
Leider gibt es zwei Achterdecks, und auf dem anderen, auf das wir hinunterblicken, sehen wir in diesem Moment die Gestalt von Alexander Finkeblod, der auch hinausgegangen ist, um nach Finø zurückzuschauen und sich vermutlich auf den Tag zu freuen, an dem er abreist und wirklich nie wieder wiederkommt, das heißt, wir ziehen uns zurück, versonnen, denn wir fragen uns, was in aller Welt Alexander Finkeblod an Bord der Weißen Dame zu suchen hat.
Um Tiltes und meine Scheu vor unserem Schulleiter zu erklären, muss ich leider sagen, dass vieles darauf hindeutet, dass Alexander Finkeblod einen ungünstigen Eindruck von meiner Familie, ja, sogar von mir persönlich gewonnen hat.
An dem Tag, an dem er wegen der wahren Bedeutung des Wortes Kattegat seinen ersten Zusammenstoß mit Tilte hatte, waren Basker und ich
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