Die Kinder des Dschinn. Das dunkle Erbe der Inka
gehört, das Bier in dieser Gegend,
C hichai,
solle sehr lecker schmecken.
»Hört mal«, sagte Philippa, »können wir diesen lächerlichen Mythos vielleicht ein für alle Mal begraben? Es gibt keine Kopfjäger im amazonischen Regenwald. Möglicherweise gab es vor hundert Jahren welche, aber doch heute nicht mehr. Hab ich nicht recht, Onkel Nimrod?«
»Es kann gut sein, dass du recht hast, Philippa«, sagte Nimrod. »Andererseits reden wir hier vom Amazonas und nichtvom Yellowstone-Nationalpark. Das hier sind die letzten großen urzeitlichen Wälder der Erde. Zwölftausend Quadratkilometer davon liegen allein in Peru, und den Großteil hat nie ein Mensch betreten. Oder Dschinn, was das angeht. Von daher haben wir eigentlich keine Ahnung, was es hier gibt oder nicht gibt. Aber das Mindeste, was sich sagen lässt, ist, dass wir dort unten allesamt einige Überraschungen erleben werden.«
Sie wurden von ihrem südamerikanischen Führer und Expeditionsmanager Miesito und seinem Koch und Bootsführer Muddy erwartet.
Für einen Indio war Miesito extrem groß. Er hatte riesige Hände und Füße und Arme, Hals und Brust waren von zahllosen seltsamen Tätowierungen bedeckt, die er John mehr als bereitwillig zeigte. Alle, bis auf die Tätowierung auf seinem Bauch. Diese, erklärte er John, halte er versteckt, weil sie, wie früher die Gorgonen, die Macht hatte, alle Lebewesen in Stein zu verwandeln.
»Mann«, sagte John, »ich möchte mal wissen, wo das Tätowierstudio zu finden ist.«
»Vor vielen Jahren«, erklärte Miesito, »Mr Vodyannoy mir schenkte drei Wünsche. Einer davon war Tätowierung. Damit ich Feinde besiegen kann, auch wenn unbewaffnet.«
»Wow«, sagte John. »Haben Sie denn viele Feinde?«
Miesito lächelte. »Jetzt nicht mehr.«
Ansonsten war er ein freundlicher und humorvoller Mann, sehr zuverlässig und absolut aufrichtig. Außerdem schien er ein recht talentierter Bildhauer zu sein. Dachten die Kinderzumindest. Das Bemerkenswerteste an Miesito aber war die Größe seines Kopfes, der nicht dicker war als eine Grapefruit oder, in diesem Fall, seine eigene Faust. John und Philippa versuchten, so zu tun, als sähe sein Kopf völlig normal aus, doch das war nicht ganz einfach. Da Miesitos Englisch nicht sonderlich gut war, mussten sie ihm beim Sprechen genau auf die Lippen sehen, um zu verstehen, was er sagte. Und diese Lippen waren fast ebenso sonderbar wie die Größe seines Kopfes. Die Zwillinge hatten durchaus schon Body-Piercings gesehen. In New York liefen massenhaft komische Leute mit seltsamen Metallteilen in Nase, Ohren, Lippen oder Bauchnabel herum. Aber Miesito war der erste Mensch, der ihnen begegnete, dem man bunte Baumwollkordeln durch die Lippen gezogen hatte und die herabhingen wie Fu-Manchu-Schnurrbärte. Die Frage, wie er dazu gekommen war, blieb für einige Stunden ein faszinierendes Rätsel.
Die Herkunft seines Spitznamens hingegen war nicht schwer zu erraten. Jedes Mal, wenn jemand Miesito eine Frage stellte wie zum Beispiel: »Wie geht es dir heute?«, gab er zur Antwort: »Nicht so gut. Geht mir heute ziemlich mies.« Natürlich waren die Zwillinge viel zu höflich, um ihn über seinen kleinen Kopf und die ungewöhnlich verzierten Lippen auszufragen. Zadie dagegen war weniger diskret und wohlerzogen; daher war sie es auch, die irgendwann mit der Frage herausplatzte, die ihnen allen durch den Kopf ging.
Und das kam so:
Sie aßen in Miesitos Lodge in Manu zu Abend, am Rand eines von Palmen umgebenen Sees, wo sie ihre erste Nacht imperuanischen Amazonasgebiet verbringen würden. Den köstlichen Ziegeneintopf hatte Muddy, der Koch, für sie zubereitet, der nicht nur gut kochen, sondern obendrein ausgezeichnet Gitarre spielen konnte. Zadie hatte mehrere Gläser von etwas getrunken, das ihr ausgesprochen lecker schmeckte, also fragte sie Miesito, wie es hergestellt wurde.
»Das ist
Chichai
. Bier, das die Inka hier erfunden haben«, sagte Miesito.
»Es geht doch nichts über ein Glas anständiges Bier«, schwärmte Groanin und toastete Miesito glücklich zu.
»Erwachsene wie Mister Groanin trinken
Chichai
mit Alkohol «, erklärte Miesito Zadie weiter. »Heißt einfach nur
Chichai
. Aber Mr Vodyannoy hat gesagt, ich soll euch geben alkoholfreie Sorte. Heißt
heiliges Chichai
und ist, was du gerade trinkst. Schmeckt genau wie
Chichai
, ist aber ohne Alkohol und ohne Kalorien. Wenn ihr nicht amerikanische Kinder wärt, ich hätte euch gegeben normales
Chichai
, aber
Weitere Kostenlose Bücher