Die Kinder des Dschinn. Das dunkle Erbe der Inka
Horrorfilm, fand er: die Art und Weise, wie ein Gegenstand plötzlich wieder ganz normal wirkte, sobald er ohne ersichtlichen Grund aufhörte, sich zu bewegen.
Er trat noch dichter davor und beugte sich dann herab, um das Ohr vor die kleine goldglänzende Stelle zu halten, die Nimrod mit der Spitze der Machete sauber gekratzt hatte. »Ist da irgendjemand?«, rief er wieder. »Hören Sie, die Tür geht nicht auf, weil der Riegel auf der anderen Seite mit einem dicken Knoten gesichert ist. Es hat also keinen Zweck, sie öffnen zu wollen. Klar?«
Wieder bewegte sich die Tür im steinernen Rahmen. Diesmal deutlicher. Dann hämmerte jemand aus Leibeskräften dagegen, was John dermaßen erschreckte, dass ihm fast das Herz stehen blieb und er einige Schritte zurückwich.
»Oha«, sagte er und fasste sich an die Brust. Im gleichen Moment hörte er eine Stimme. Eine Stimme von weit, weit weg. So, als käme sie aus einer verlorenen, unsichtbaren Welt. Und John war ziemlich sicher, dass er diese Stimme kannte. Sie gehörte Mr Groanin und es klang, als stecke er in Schwierigkeiten.
D urch die T ür
Als er das hörte, was er für Groanins Hilfeschrei hielt, war Johns erster Impuls, mit seiner Machete auf den großen verschlungenen Knoten einzuschlagen, mit dem die Tür des Inkaportals gesichert war. Zum Glück hatte der Lupunabaum seinen schlafenden Kopf eine Weile in sich aufgenommen und dem Unterbewusstsein des jungen Dschinn eingegeben, dass der Knoten ein unsagbar wichtiges und geheimes Wort enthielt. Eingeknotet in diesen Schlüssel – denn das war der Knoten in Wirklichkeit – war das geheime Wort von einer Generation Inkapriester zur nächsten weitergegeben und nur den Inkakönigen selbst preisgegeben worden. Diese Tatsache wurde John allerdings erst später bewusst. Im Augenblick war seine Machete weniger als einen Millimeter vom Knoten entfernt, doch er zwang sich, ihn nicht zu durchschneiden, sondern machte sich daran, ihn aufzubinden.
»Halten Sie durch, Mr Groanin«, rief John durch die Tür. »Ich komme und hole Sie.«
Er brauchte nicht lange, um den Knoten zu lösen. Wie bei vielen scheinbar hoch komplizierten Aufgaben, für die Mathematiker eine Schwäche haben, war die Lösung eigentlich ganzeinfach. Sie fing damit an, dass John den Inhalt seiner Wasserflasche auf den Knoten schüttete. Das Seil war nämlich vor dem Verknoten in Wasser eingeweicht und nach dem Verknoten zum Trocknen in die pralle Sonne gelegt worden, sodass er sich natürlich zusammengezogen hatte und geschrumpft war. Indem er die Schlingen des Knotens anfeuchtete, sorgte John dafür, dass sie sich lockerten und einfacher zu handhaben waren.
Nicht dass es einem Erwachsenen jemals möglich gewesen wäre, mit dem Knoten fertig zu werden, egal, ob nass oder trocken. Nein, das Seil konnte nur von den kleinen und geschickten Fingern eines Indios oder eines Jungen wie John gelöst werden. Das war einer der Gründe, warum der Lupunabaum John das Geheimnis anvertraut hatte.
Doch das Wichtigste, was John vom Lupunabaum über den Knoten erfahren hatte, war die Tatsache, dass es sich gar nicht um einen echten Knoten mit zwei losen Enden handelte, sondern um eine äußerst kunstvoll arrangierte Schlinge, die man so raffiniert verschlungen hatte, dass sie wie ein Knoten aussah. Die Schlinge war so gelegt worden, dass sie zwei Enden zu haben schien, und in diese hatte man zwei mehrfache Überhandknoten gebunden. Dann waren die beiden Enden der Schlingen mehrmals über die beiden Knoten gezogen worden und anschließend hatte man das Seil in der Sonne trocknen und schrumpfen lassen, bis es so fest saß wie ein Felsstein.
Da er all das wusste, brauchte John weniger als eine Minute, um den Knoten aufzudröseln.
»John! Was um alles in der Welt machst du da?« Das warNimrod, den Johns Geschrei vor der Tür herbeigelockt hatte. Trotz aller »gründlicher Kontemplation« war ihm keine Lösung eingefallen, weder für das Aufbinden des Knotens noch auf die Frage, was sie wegen Virgil Macreeby unternehmen sollten. Er staunte nicht schlecht, als er sah, dass der Knoten an der Tür verschwunden war und sein junger Neffe nun die Schlinge aus Menschenhaar in den Händen hielt, mit der man den Knoten gebunden hatte. »Wie hast du diesen Knoten aufbekommen? Und warum?«
»Ist schon gut«, sagte John. »Ich habe keine Dschinnkraft gebraucht. Ich habe es im Kopf rausbekommen.«
»Aber warum, John, warum?« Nimrod sah ihn böse an. »Ich dachte, ich hätte
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