Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
wie John mit sich selbst sprach und Dybbuk laut vor sich hin pfiff. Zum anderen war da das laute Ticken einer Standuhr, obwohl weit und breit keine Uhr zu sehen war. Und überall knarrte es wie im Innern eines alten Schiffs.
Am unheimlichsten aber war das handfeste Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden, obwohl sie genau wusste, dass Mr Rakshasas allein in der Lampe lebte. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde zur Gewissheit, als sie beim Herausziehen eines Buches auf der anderen Regalseite etwas oder jemanden hastig in der Dunkelheit verschwinden sah.
»Wer ist da?«, rief sie, und als keine Antwort kam, fügte sie böse hinzu: »Wenn du wieder deine Scherze treibst, Buck, wird es dir noch leidtun.«
Plötzlich begann Buck irgendwo am anderen Ende der Bibliothek wieder zu pfeifen – die gleiche eintönige, fast tonlose Melodie, die er immer pfiff. Normalerweise hätte es sie vielleicht irritiert, in einer Bibliothek jemanden pfeifen zu hören, doch dieses Mal war sie dankbar dafür. Die Vorstellung, mit – was immer es war – allein zu sein, wäre zu schrecklich gewesen.
Wieder bewegte sich etwas im Dunkeln. »John?«, hauchte sie fast flüsternd. »Bist du das?« Dabei wusste sie noch imgleichen Moment, dass es nicht ihr Bruder war. John gehörte nicht zu den Brüdern, die sich einen Spaß daraus machten, ihre Schwester zu erschrecken, was daran liegen mochte, dass er ihr Zwilling war; es wäre so, als erschreckte er sich selbst. Außerdem hätte er mit Sicherheit die gleiche Angst empfunden, die auch Philippa empfand.
Wieder ein Geräusch. Diesmal raschelten irgendwo hinter ihr in der Finsternis Buchseiten; sie konnte also nicht zu John und Dybbuk zurück, ohne sich ihm zu stellen, was immer es auch war. Fast im gleichen Moment kam Philippa der Gedanke, dass es vielleicht Mr Rakshasas sein könnte, der womöglich nie mit Nimrod weggefahren war. Sie rief seinen Namen, doch es kam keine Antwort. Langsam begann sich ihre Furcht in Zorn zu verwandeln.
»Hören Sie«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich bin eine Freundin von Mr Rakshasas. Eine sehr gute Freundin sogar. Und es würde ihm nicht gefallen, dass Sie mich so erschrecken. Ganz und gar nicht. Verstehen Sie mich?«
»Kleine Närrin«, zischte eine reptilienartige Stimme. »Weißt du denn nicht, dass man nicht ohne Erlaubnis die Wohnlampe oder Flasche eines Dschinn betritt? Ihr hättet sterben können. Alle miteinander.«
Im nächsten Korridorabschnitt ging das Licht an und Philippa fand sich plötzlich einer scheußlichen, aber leicht menschlich wirkenden Eidechse gegenüber. Hätte die Kreatur, die einen schicken grauen Anzug trug, nicht bereits gesprochen, Philippa hätte es wohl kaum gewagt, sie anzusprechen.
»Was – ich meine, wer sind Sie?«, stammelte sie.
»Ich bin der Flaschenkobold«, zischte das Wesen. Es zog ein Buch aus dem Regal, schlug es auf und blätterte mit einer langen scharfen Klaue darin herum, ehe es Philippa das offene Buch in die Hand drückte. »Hier«, sagte der Kobold. »Lies.«
Philippa holte tief Luft, schaute auf den Titel des Buches, der »Das Oxford-Kompendium der Kobolde« lautete, und dann auf die aufgeschlagene Seite.
»Diesen Abschnitt«, sagte der Kobold und tippte mit seiner langen Klaue ungeduldig auf einen bestimmten Absatz. »Hier. Lies laut. Bitte.«
»›Es gibt verschiedene Arten von Kobolden‹«, las Philippa möglichst laut, in der Hoffnung, John und Dybbuk würden sie hören und ihr zu Hilfe kommen. »›Wir kennen Kinder der Hölle, Kreaturen des Beelzebub, Spottkobolde und kleine Teufel. Außerdem die Flibbertigibbets, über die sich jedes weitere Wort verbietet. Weiterhin gibt es übermütige Kobolde und solche, die einmal Kinder waren. Kleine Dämonen und böse Geister. Und es gibt Flaschenkobolde, die von Dschinn eingesetzt werden, um die Lampen und Flaschen zu bewachen, welche sie mitunter bewohnen.‹« Philippa machte eine Pause und hob den Kopf.
»Lies weiter«, drängte der Flaschenkobold.
»›Kobolde, die in einem früheren Leben nicht selten Zauberer oder deren Lehrlinge waren, werden häufig für giftig gehalten, was streng genommen nicht der Wahrheit entspricht. Aufgrund ihrer unerquicklichen Vorliebe für verwesendes Tierfleisch sind die in Koboldmündern befindlichen Bakterien jedoch überaus gefährlich und haben schon häufig zum Tod von Menschen und selbst von Dschinn geführt, diesich durch Pech oder Dummheit an den Zähnen oder Klauen
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