Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
negativ auf den Anblick von vier Abendländern, die im Schneidersitz durch die Luft flogen. Schließlich waren viele, die dieses Schauspiel beobachteten, genau deshalb nach Kathmandu gekommen, und sie glaubten nichts anderes, als dass es sich um vier Meister des yogischen Fliegens handelte, das ein Bestandteil der Transzendentalen Meditation ist. Die Leute hielten das, was sie da sahen, für den lebenden Beweis der Erleuchtung, die sie selbst in den Aschrams und Tempeln zu finden hofften. Daher verbeugten sich die Priester, die heiligen Männer reckten die Arme in die Luft, die Gurus applaudierten, die Yogis setzten sich in den Lotussitz und begannen über den Rasen zu hüpfen, als wollten sie selbst gleich abheben, Frauen warfen Blumen und Hippies machten das Friedenszeichen und grinsten abwesend vor sich hin.
»Cool«, sagte Dybbuk und grüßte mit dem Friedenszeichen zurück.
»Wo geht’s nach Lucknow?«, erkundigte sich John.
»Da lang«, sagte Dybbuk.
John musterte seinen Freund, der immer noch entsetzlich blass aussah und vage nach Westen deutete. »Bist du sicher?«, fragte er.
»Na, sicher bin ich sicher«, sagte Dybbuk und schluckte bitteren Speichel hinunter. »Ein Stück nach Westen, dann nach Süden und dann bis zum Mittagessen geradeaus.«
Nepal ist die Heimat der höchsten Berge der Welt, darunter der Mount Everest, der Lhotse, der Makalu und der vielleicht am schwierigsten zu ersteigende Berg, der Annapurna. JohnsFlugroute führte sie über den südlichen Rand des Annapurna-Schutzgebietes. Hier erwischte sie ein früher Monsunwind, der sie, trotz Johns redlicher Bemühungen, nach Norden blies, direkt in die Ausläufer des Himalaja.
»Wir kommen vom Kurs ab!«, schrie Philippa.
»Ich weiß«, sagte John. »Aber ich kann nichts dagegen tun.«
Philippa und Dybbuk hatten keine Möglichkeit, ihm zu Hilfe zu kommen, denn nur der Dschinn, der den Wirbelsturm entfacht hat, darf ihn auch fliegen.
»Wir müssen diesen Rückenwind loswerden«, sagte Dybbuk.
»Ich trau mich nicht, noch höher zu fliegen«, sagte John. »Ist dir noch nicht aufgefallen, dass es immer kälter wird?« Er sah nach unten. »Und landen ist vermutlich auch keine gute Idee. Da unten liegt Schnee.«
Doch je näher sie den schneebedeckten Flanken des Annapurna kamen, desto kälter wurde es John, bis er den Wirbelsturm nicht länger kontrollieren konnte und sie gezwungen waren, auf einem Eisfeld auf der unwirtlichen Nordseite des Berges, knapp dreitausenddreihundert Meter unterhalb des Gipfels, zu landen.
Ein eisiger Wind fegte den Berg herab, peitschte ihnen den Schnee ins Gesicht und ließ ihnen das kostbare Dschinn-Mark in den Knochen gefrieren. Sie hatten weder die Möglichkeit, ein Feuer anzuzünden und sich genügend aufzuwärmen, um ihre Dschinnkräfte wieder einsetzen zu können, noch war in dem riesigen verschneiten Tal unter ihnen irgendjemand zu sehen – weder Trekker noch Bergsteiger –, der ihnen mit etwas so Simplem wie einem heißen Getränk hätte aushelfenkönnen. Innerhalb weniger Minuten war allen vieren klar, dass sie, wenn nicht bald jemand kam, um sie zu retten, allesamt erfrieren würden.
»Na, wunderbar«, sagte Groanin. Er setzte sich in den Schatten eines großen Eisblocks, steckte die Hände unter die Achseln und unterbrach das Zähneklappern gerade lange genug, um in Dybbuks Richtung zu fauchen: »Nichts ist sicherer, hast du gesagt. Und ich Einfaltspinsel hab dir geglaubt.«
»Was kann ich denn dafür, dass er nicht fliegen kann«, sagte Dybbuk. »Er hätte erst nach Süden und dann nach Westen fliegen müssen. Dann hätten wir dieses Wettergebiet umflogen.«
»Ich weiß genau, dass du gesagt hast, ich soll erst nach Westen und
dann
nach Süden fliegen!«, schrie John gegen den Wind an.
»Gib mir nicht die Schuld«, sagte Dybbuk.
»Niemand gibt hier jemandem die Schuld«, sagte Philippa. »Dafür ist es zu spät. Wenn wir uns nicht bald etwas einfallen lassen, werden wir hier alle erfrieren.« Sie setzte sich neben Groanin und kuschelte sich an ihn, in dem vergeblichen Versuch, sich warm zu halten.
Große weiße Wolken trieben bereits vor die Sonne, sodass die Temperatur rapide in den Keller fiel; und alle hatten Raureif in den Haaren.
Als Groanin das nächste Mal den Mund aufmachte, ließen ihn seine Atemwolken aussehen wie ein Dschinn, der sich in Rauch auflöst, während sich seine Körperwärme in der eisigen Luft des Himalaja verflüchtigte. »Wenn noch jemand einen dieser
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