Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
»Liegt das nicht auf der Hand? Du hast ein schlechtes Gewissen, weil du sie bald verlassen wirst, um der nächste Blaue Dschinn zu werden. Hab ich Recht?«
»Du weißt es?«
»Natürlich. Tante Felicia hat es mir gesagt. Und sie hat es von Edwiges erfahren, der wandernden Dschinnfrau. Sie sind alte Freundinnen.«
»Verstehe.«
Der Blaue Dschinn von Babylon – nach alter Tradition immer eine Frau und der mächtigste Dschinn von allen – ist verpflichtet, in einem Zustand moralischer Gleichgültigkeit zu leben, um jenseits von Gut und Böse zu stehen und so allen Dschinn gerecht werden zu können. Mrs Gaunt hatte sich heimlich bereiterklärt, nach dem Tod von Ayesha – die der jetzige Blaue Dschinn war und zufälligerweise auch ihre eigene Mutter – deren Nachfolge anzutreten. Auf diese Weise hatte sie Ayesha davon abgehalten, Philippa zum nächsten Blauen Dschinn zu machen. Denn das Leben als Blauer Dschinn fordert einen schrecklichen Preis, weil die jeweilige Amtsinhaberin gezwungen ist, sich von ihrer Familie loszusagen, um ohne Liebe und nur nach den kalten Regeln der Logik zu leben.
»Du glaubst, es würde dir leichter fallen, die Zwillinge zu verlassen, wenn sie ungehorsam und rücksichtslos wären.« Dr. Sacstroker schüttelte den Kopf. »Es sind nicht die beiden, denen etwas fehlt, Layla. Du bist es. Weil du weißt, wie sehr du sie vermissen wirst, wenn du fortgehst.« Sie legte eine Pause ein. »Stimmt’s oder habe ich Recht?«
»Ja, du hast Recht.« Mrs Gaunt stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber was soll ich denn machen, Jenny? Ich habe ihr mein Wort gegeben. Ich musste es tun und Ayesha versprechen, dass ich der nächste Blaue Dschinn werde. Es wird nicht mehr lange dauern. Eigentlich kann es sich nur noch um Tage handeln.« Mrs Gaunt biss sich auf die Lippe. »Was soll ich ihnen nur sagen, Jenny? Was soll ich John und Philippa sagen?«
»Willst du meinen Rat?«
»Natürlich!«
»Dann sag ihnen, was Ayesha dir und Nimrod gesagt hat, als sie der Blaue Dschinn wurde. Du bist darüber hinweggekommen, Layla. Und das werden sie auch. Sag ihnen das, was sie euch gesagt hat. Wenn die Kinder nur halb so einfühlsam und verständig sind, wie du sagst, werden sie es verstehen. Da bin ich mir sicher.«
An dem Morgen, als Ayesha in ihrem Haus in Berlin starb, fand Mrs Gaunt die beiden Woanders ruhig lesend auf ihren Zimmern. Für John war das weit ungewöhnlicher als für Philippa, deshalb fühlte sich Mrs Gaunt veranlasst, ihm die Hand auf die Stirn zu legen, um festzustellen, ob er vielleicht verminderte Temperatur hatte. Seine Haut fühlte sich beruhigend warm an; doch sein Verhalten war so seltsam, dass Mrs Gaunt ein Thermometer holte und es John-2 unter die Zunge schob. Seine Körpertemperatur betrug genau 38,6° Celsius; das sind zwar gut anderthalb Grad mehr als bei einem Menschen, ist für einen Dschinn aber völlig normal. 1
»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte John-2.
»Bei dir jedenfalls nicht«, sagte Mrs Gaunt.
»Bei mir?«, erwiderte John-2. »Mir geht es gut.«
»Wirklich, Liebling?« Sie zuckte die Achseln. »Du wirkst ein wenig brav.«
Philippa-2 kam hereingeschneit, wie Philippa es manchmal tat, um zu hören, ob Mrs Gaunt irgendwelche Anweisungen für sie hatte. Sie lächelte Mrs Gaunt freundlich an und setzte sich dann sittsam in einen Sessel: mit geschlossenen Beinen, die Hände im Schoß gefaltet und mit kerzengeradem Rücken, so wie ihre Mutter es immer von ihr forderte. Sie hatte sogar eines der Kleider an, die Mrs Gaunt so gefielen, und keine Jeans, die Philippa viel lieber waren.
»Ihr kommt mir beide irgendwie ein wenig zahm vor«, fuhr Mrs Gaunt fort. »Ich meine, sieh dir nur mal an, wie du da sitzt, Philippa. Normalerweise flegelst du dich in den Sessel. Und du hast ein Kleid an. Dabei trägst du sonst nie Kleider, außer wenn ich dich darum bitte. Und John liest ein Buch, statt fernzusehen. Das ist vollkommen unnormal.«
»Aber du sagst doch selbst immer, dass ich gerade sitzen soll«, meinte Philippa-2.
»Und mir sagst du, ich soll mehr lesen und weniger fernsehen «, fügte John-2 hinzu. »Und das tue ich.«
»Ja, Liebling. Du hast ja Recht.« Mrs Gaunt setzte sich auf Johns Bettkante und sah die beiden Woanders an, immer noch völlig ahnungslos, dass dies nur zwei perfekte Kopien ihrer echten Zwillinge waren. »Also sollte ich mich auch nicht darüber beklagen, nicht wahr? Ich bin von euch einfach ein anderes
Weitere Kostenlose Bücher