Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
Reiseführer, früher einmal ein See gewesen war, in dem es vor Schlangen nur so gewimmelt hatte. Auf der Kuppe des Hügels stand der von Affen, Pilgern und Touristen bevölkerte Swayambhu-Tempel. Nicht weit davon, in der Nähe des Parkplatzes, fanden sie ein ruhiges Plätzchen, wo John sich daranmachte, einen Wirbelsturm zu entfesseln. Sein erster Versuch schleuderte ein Auto in die Luft und ließ es auf dem Dach landen. Sein zweiter schoss völlig unkontrolliert davon und jagte dabei ein paar Affen vor sich her, bis hinab zum Naturkundemuseum am südlichen Ende des Hügels.
»Herrje!«, schimpfte Groanin. »Du bringst uns noch alle ins Gefängnis, John. Nun mach schon, bevor uns jemand sieht.«
»Es hat uns schon jemand gesehen«, sagte Philippa und deutete zum anderen Ende des Parkplatzes, wo sich ein alter Mönch in roten Gewändern, die Hände anbetend vor der Brust gefaltet, heftig in ihre Richtung verneigte und ein Gebet murmelte. »Mach weiter, John«, trieb sie ihn an. »Es ist zu spät, sich Gedanken zu machen, was er wohl denkt.«
»Sieht aus, als hättest du ihm den Tag versüßt«, meinte Groanin, als es John im dritten Anlauf gelang, sie mit einem respektablen Wirbelsturm aufsteigen zu lassen. »Seinen Glauben an Was-weiß-ich scheinst du auf jeden Fall wiederhergestellt zu haben.«
»Na, umso besser«, sagte Philippa und winkte dem Mönch fröhlich zu, der zu ihrer Freude zurückwinkte.
»Erzähl mir noch einer was von himmlischen Streitwagen«, sagte Groanin, der irgendwo nach einem Halt suchte, aber feststellen musste, dass Luft zum Festhalten nicht geeignet war. »Herrje!«
Dybbuk stöhnte laut auf, als ein Ruck durch den Wirbelsturm ging und er davonschoss, als werde er von unsichtbaren Pferden gezogen. Sekunden später beugte sich Dybbuk zur Seite und übergab sich zu Philippas Entsetzen direkt über den Köpfen einiger Touristen.
»Geht’s dir jetzt besser?«, fragte sie spitz.
Dybbuk lächelte schwach. »Besser?«, sagte er leise. »Ja, ein bisschen.«
»Die armen Touristen«, sagte sie.
Doch das von Johns wirbelnden Winden und Dybbuks Magen verursachte Tohuwabohu war noch nicht vorüber. Während die Luftmasse schnell in die Höhe stieg und sich vom Hügel entfernte, versuchte John sie um die eigene Achse zu drehen, was dazu führte, dass sich der Wirbelsturm erst leicht und dann immer stärker zur Seite neigte, sodass sie fast oben herauspurzelten.
»Halt still!«, schrie Groanin. »Wir stürzen noch alle ab.«
»Tut mir leid«, sagte John, als Dybbuk sich wieder übergab, diesmal auf den Trupp Affen, den sein erster Wirbelsturm den Hang hinuntergescheucht hatte.
»Stell dich gerade hin«, sagte Dybbuk und wischte sich den Mund am Ärmel ab. »Stemm dich mit den Absätzen gegen den Wind. Das hilft dir, dich zu konzentrieren.«
John tat, wie ihm geheißen, und stemmte die Absätze fest gegen die zirkulierende Luft. Sofort veränderte der Wirbelsturm seine Ausrichtung.
»Nicht zu viel«, sagte Dybbuk.
»Ich glaub, ich hab den Bogen raus«, schrie John, denn inzwischen blies ihnen der Wind ziemlich laut um die Ohren.
»Das will ich hoffen«, stöhnte Groanin. »Wenn das so weitergeht, muss ich ohne Frühstück weiterreisen.«
Der Wirbelsturm sauste ins Tal hinab, direkt über eine Trekker-Herberge, wo er mit seinem unteren Ende das Wellblechdach von den Waschräumen und Toiletten fegte; und die Wut und Scham derjenigen, die dort unten saßen, waren für die Handvoll Zuschauer weiter oben nicht zu übersehen. Trotz seines schlimmen Magens brachte Dybbuk es fertig zu lachen.
»Dich lasse ich gern öfter Wirbelstürme fliegen, John«, sagte er.
»Wir sind zu tief«, sagte Philippa. »Alle können uns sehen.«
Sie hatte Recht. Die drei Kinder und der einarmige Mann, die es sich im Innern der kreisenden Luftmasse bequem gemacht hatten, waren vom Boden aus gut zu sehen. Ein Verkehrspolizist bemühte sich vergebens, sie vom belebten Durbar Square fortzuwinken, musste sich aber schnellstens ducken, als eine Satellitenschüssel auf ihn zugeflogen kam, die der Wirbelsturm von der Bonnington-Burger-Bar abgerissen hatte. Kulis, die vor dem halbfertigen Hilary-und-Tenzing-Base-Camp-Hotel Steine stapelten und Sand schaufelten, trieb der umherirrende Wirbelsturm nach allen Seiten auseinander. In jeder anderen Stadt hätte inzwischen das völlige Chaos geherrscht. Doch die Hauptstadt von Nepal ist bekanntfür ihre Toleranz und Gelassenheit; und in Wirklichkeit reagierten nur wenige Menschen
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