Die Kinder des Dschinn. Der Spion im Himalaya
Luftströmung aus«, erklärte Rakshasas. »Wie aus dem Blasloch eines Wals. Wenn du nicht mit hoher Geschwindigkeit fliegst, würde sie dich geradewegs vom Teppich blasen.«
»Das hört sich alles ziemlich gefährlich an«, sagte John. »Gibt es denn keinen Weg durch das Gebirge?«
»Es gibt einen, aber ich habe schlichtweg keine Ahnung, wo erverläuft«, erwiderte Rakshasas. »Oder wenn ich es wusste, habe ich es vergessen. Schließlich war ich 1934 das letzte Mal hier. In über siebzig Jahren vergisst man einiges, das kannst du mir glauben. Außerdem ist es zu Fuß genauso gefährlich. Vielleicht sogar noch gefährlicher.«
»Was mache ich hier bloß?«, fragte sich John. »Ich sollte in der Schule sein.«
»Abgesehen von der Schwierigkeit des Weges«, fuhr Rakshasas fort, »und der offensichtlichen Blasphemie, die jeder gute Dschinn zu vermeiden trachten sollte, gibt es viele wilde Tiere.«
»Wenn das alles vorbei ist und ich noch am Leben bin, bleibe ich einfach zu Hause, mache meine Hausaufgaben und schaue fern. Ehrlich.«
»Außerdem würden wir zu Fuß viele Wochen benötigen, und dem armen Mr Groanin bleiben kaum noch Tage, geschweige denn Wochen.«
»Schon kapiert«, sagte John. »Dann sollten wir uns lieber in Bewegung setzen. Die Sonne geht bald unter, und wir können es uns nicht leisten, noch einen Tag zu warten, um dieses Fenster von Milarepa zu finden, von dem Sie erzählt haben.«
»Eines noch«, sagte Rakshasas. »Falls und wenn wir das Lamakloster finden sollten – Lamas heißen die Mönche, die hier oben leben –, dann überlasse das Reden mir. Ich hoffe doch sehr, dass sie sich an mich erinnern werden.«
»Wie wollen Sie das anstellen?«, fragte John. »Sie sind ein Wolf.«
»Mit diesen Lamabrüdern kann man sich auf verschiedene Arten unterhalten«, erwiderte Rakshasas. »Du wirst schon sehen.«
»Das hoffe ich«, sagte John.
Er glitt aus dem Körper des Wolfs und zurück in seinen eigenen, woraufhin er sich minutenlang übergeben musste, weil er immer noch den Geschmack des verrotteten Kaninchenfleisches im Mund hatte. (Das ist eine Art Berufskrankheit, die nach Tiertransformationen bei allen Dschinn auftritt.)
Als er sich erholt hatte, setzte sich John wieder auf den Teppich und machte sich mit Rakshasas an seiner Seite auf den Weg. Er flog, so schnell er konnte, und hielt direkt auf eine Stelle in der Mitte der Nordwand zu, wo ihm der Felsen am blausten zu sein schien. Doch sosehr sich John auch bemühte, fiel es ihm dennoch schwer, sich vorzustellen, dass sich der Stein plötzlich in Luft verwandeln würde. Er hatte viele merkwürdige und wunderbare Dinge mit angesehen, seit er entdeckt hatte, dass er ein Dschinn war, aber festes Gestein, das die Fähigkeit besaß, seine Form und Masse zu verändern, gehörte nicht dazu.
Immer schneller rasten sie auf die gewaltige Felswand zu. Tief unter ihnen lag das riesige Hochplateau. Hoch über ihnen ragte die verbotene Nordwand des Kailash auf. Und je näher sie ihr kamen, desto mehr bezweifelte John, dass irgendein Kletterer sie je bezwingen könnte. Gegen den Kailash wirkte die Besteigung der Eigernordwand oder der Südwand des Annapurna wie ein Sonntagsspaziergang.
Jetzt füllte der heilige Berg sein ganzes Blickfeld aus. Wohin er auch sah war nichts als blauer Berg. Und zum ersten Mal überkam John eine Ahnung, wie man den Kailash mit dem Himmel verwechseln konnte. Der Schnee schmiegte sich an den Fels wie dünne Zirruswolken und reflektierte das Blau des Himmels, das sich vom silberfarbenen Granit abhob.
Als sie nur noch wenige Hundert Meter entfernt waren, setztesich Rakshasas auf und bellte laut; John hatte das Gefühl, als wollte ihn der Wolf ermutigen, noch schneller zu fliegen, auch wenn es der reinste Selbstmord zu sein schien.
Wenn er sich jetzt irrte, würden sie gegen den Berg prallen und zerschmettert werden.
»Ins Blaue!«, schrie er und zwang sich, mit aller Kraft daran zu glauben, dass sich der Fels in Luft verwandeln würde.
Rakshasas bellte aufgeregt und rannte auf dem Teppich hin und her, als wittere er einen Hasen.
John versuchte, seinen Geist zu leeren und sich nur auf das Fliegen des Teppichs und das Ergebnis zu konzentrieren, das er herbeisehnte.
Plötzlich sah er sich vor seinem geistigen Auge im Schneidersitz auf dem Teppich sitzen wie ein in Meditation versunkener asketischer Mönch. Und aus keinem erklärbaren Grund hob er die Hand, um den Berg zu grüßen, obwohl er gleichzeitig befürchtete,
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