Die Kinder des Dschinn. Der Spion im Himalaya
dass sie mit ihm kollidieren würden.
Doch statt gegen eine Wand aus Gestein zu prallen, erkannte John mit einem Mal, dass hier eine optische Täuschung am Werk war und die scheinbar geschlossene Nordwand einen Spalt verbarg, der in etwa so breit war wie ein Bus lang. Die Wände rund um die Öffnung waren von gewaltigen Silberablagerungen durchzogen, die das Gestein und den Himmel wie riesige Spiegel reflektierten und die mehr als ausreichten, um jeden Beobachter unten am Wandfuß davon zu überzeugen, dass die Nordwand ein geschlossenes Massiv war.
»Milarepas Fenster! Wir haben es gefunden!«
Gleichzeitig wurde klar, warum Rakshasas John gedrängt hatte, sich ganz und gar auf das Fliegen zu konzentrieren. Der schmale Spalt war in spitzem Winkel in den Fels getrieben, undfast unmittelbar nachdem John den Teppich erfolgreich durch die Öffnung gesteuert hatte, musste er eine scharfe Rechtskurve fliegen. Im gleichen Moment fuhr eine starke Böe durch den Spalt, und wäre John nicht mit solchem Tempo unterwegs gewesen, hätte ihn der Wind mitsamt dem Teppich wie einen alten Federball wieder hinausgeweht. Auch so wurden sie von der Böe mehrere Meter in die Höhe getragen, sodass Johns Kopf einen spitzen Felszacken nur um wenige Zentimeter verfehlte.
Der Dschinnjunge stieß bei diesem engen Manöver einen Angstschrei und gleich darauf einen Jubellaut aus, und auch Rakshasas heulte triumphierend auf, als der fliegende Teppich durch den Spalt segelte wie ein silberner Faden durch ein Nadelöhr. Sobald sie die Sonne hinter sich gelassen hatten, fiel die Temperatur rapide ab, und John war froh über die viele warme Kleidung, die er trug. Noch war die Dschinnkraft stark, die in seinem Innern loderte.
»Wir haben es geschafft!«, hallte das Echo seiner Stimme von den Wänden wider wie ein Squashball, der von einer Wand abprallt.
Rakshasas biss John in die Hand, als wollte er ihn daran erinnern, weiter darauf zu achten, wohin sie flogen. Und das war auch gut so, denn der Spalt war voller scharfer Windungen, Kehren und unerwarteter Böen, die John das Gefühl gaben, ihr rasanter Gleitflug durch die Felsen sei das fliegende Gegenstück einer Wildwasserfahrt.
Nach etwa zehn Minuten erreichten sie nicht die andere Seite des Berges, sondern den Rand eines riesigen erloschenen Vulkankraters.
»Wir haben es geschafft«, sagte John und drückte Rakshasas fest an sich. »Wir sind durch.«
Er wollte gerade die Faust in die Luft recken und einen Begeisterungsschrei loslassen, als etwas mit Wucht von unten gegen sie stieß und sie etwas vernahmen, das sich sehr nach einem Schuss anhörte.
Der Teppich rotierte wie eine fliegende Untertasse, stieß gegen die Wand des Spalts, den sie gerade verlassen hatten, und kippte nach hinten. John kämpfte verzweifelt darum, die Kontrolle wiederzuerlangen, während sich Rakshasas irgendwie festzuhalten versuchte. Vergeblich. Der Dschinnjunge drehte sich um und wollte den Wolf am pelzigen Nacken packen, verfehlte ihn aber, und Rakshasas stürzte achtzig, neunzig Meter tief auf den schneebedeckten Boden. Als John sich entsetzt abwandte, gewahrte er weit oben auf der Flanke des Berges, gegen die er gerade geprallt war, ein halb verfallenes Kloster und mehrere Leute, die wild gestikulierend zu ihm hinuntersahen, als errege er dort ordentlich Aufsehen. Im nächsten Moment krachte Johns Teppich nur wenige Schritte von der Stelle entfernt auf, wo auch Rakshasas lag. Der Schnee dämpfte die größte Wucht des Aufpralls, die immer noch ausreichte, um sämtliche Füllungen in Johns Mund zu lockern, und er verlor minutenlang das Bewusstsein.
Etwas stach ihn in den Arm, und als er die Augen aufschlug, sah er sich von mehreren Paaren glänzender Reitstiefel umgeben. Ein hochgewachsener Mann half ihm, sich aufzusetzen, während ein anderer vor ihm kniete und ihm forschend in die Augen blickte. Er hatte ein merkwürdiges silbernes Abzeichen an der Mütze, einen Totenkopf mit gekreuzten Knochen, und einen Augenblick lang fragte sich John benommen, ob er ein Pirat war.
Suchend blickte er sich nach Rakshasas um, ohne ihn zu finden.Dann rieb er sich blinzelnd die Augen und schüttelte den Kopf, weil er zu halluzinieren glaubte: Mehrere Männer standen im Kreis um ihn herum und sprachen deutsch miteinander, eine Sprache, die John zum Glück verstand. Sie alle trugen ein Symbol, das er nur aus Schulbüchern kannte.
»Wie viele Finger?« Der Mann mit dem Totenkopf-Knochen-Abzeichen hielt drei Finger in die
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