Die Kinder des Dschinn. Der Spion im Himalaya
bis zu den Ellbogen reichten, ein elegantes lilafarbenes Kleid sowie mehrere Perlenketten und hatte eine Aktentasche aus Sattelleder in der Hand, als sie aus dem Wagen stieg. Ihr Gesichtsausdruck war kalt und herrisch, als sei sie ebenso daran gewöhnt, dass man ihr gehorchte, wie der altägyptische Pharao Osymandias.
Den Mann im gestreiften Pullover, der nicht weit von ihr entfernt von einem Motorrad stieg, schien sie nicht weiter zu beachten. So kam es dem Mann jedenfalls vor, der sich an eine Mauer lehnte und eine Zeitung zu lesen begann. Doch die alte Dame beobachtete ihn aufmerksam und marschierte, sobald sie die Tür des blauen Rolls verschlossen hatte, zu ihm hinüber und stellte ihn verärgert zur Rede:
»Verfolgen Sie mich etwa, Sie elender kleiner Wicht?«
»Ich, Lady? Wie kommen Sie denn auf die Idee?« Der Mann grinste unangenehm. »Sie sind ein bisschen zu alt für meinen Geschmack, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Und Sie für meinen Geschmack ein bisschen zu verdächtig«, sagte die alte Dame. »Es würde mich nicht wundern, wenn sich die Polizei für Sie interessiert, mein Bester.«
Ein wenig eingeschüchtert, zögerte der Mann zunächst und versuchte dann, der alten Dame die Aktentasche zu entreißen, um sogleich festzustellen, dass diese mit Handschellen an ihrem Handgelenk befestigt war.
Die alte Dame schrie jedoch nicht auf, wie man es vielleicht erwartet hätte. Noch rief sie um Hilfe oder fiel zu Boden, als ihr Angreifer mit aller Kraft an der Aktentasche zog. Vielmehr musste der Mann zu seinem eigenen Nachteil feststellen, dass sein Angriff eine überraschend starke Gegenwehr zur Folge hatte. Denn dies war keine gewöhnliche alte Dame. Sie war zwar kein Dschinn, aber eine Expertin in der uralten Kunst des
Kuttu Varisai
, einer indischen Kampfkunstvariante.
In Sekundenschnelle hatte die alte Dame den Mann durch die Luft gewirbelt, als wäre er ein großes Kissen. Er prallte auf ein Geländer und lag sekundenlang betäubt auf dem Boden, ehe er sich aufrappelte, auf sein Motorrad sprang und schnellstens davonbrauste, bevor die alte Dame ihm irgendwelche dauerhafteren Schäden zufügen konnte.
Es war niemand in der Nähe, der Zeuge dieses Vorfalls gewesen wäre, abgesehen von Nimrod, der vom Salonfenster aus alles mit angesehen hatte. Und er war nicht im Mindesten überrascht vom Anblick dieser betagten Lady, die einen Straßenräuber durch die Luft wirbelte. Die Dame mochte aussehen wie ein altes Mütterchen, doch Nimrod wusste, dass sie niemand anders war als
μ
(das ist der griechische Buchstabe My, der »Mi« ausgesprochen wird) und damit die Leiterin einer wichtigen Abteilung im ehemaligen MI6, wie der britische Auslandsgeheimdienst manchmal noch heute genannt wird.
Wenn du die Website des MI6 aufrufst ( www.mi6.gov.uk ), erfährst du allerdings, dass der Name MI6 offiziell schon vor vielen Jahren abgeschafft wurde und dass der richtige Name der Organisation, die sich heimlich um die Sicherheit und das Wohlergehen Großbritanniens kümmert, Secret Intelligence Service lautet, oder in Kurzform SIS.
Solltest du auf der Website des SIS dem virtuellen Rundgang folgen, wirst du entdecken, dass die Dachorganisation des SIS eine breite Palette von Klubs und Sportverbänden beherbergt. Einer dieser SI S-Verbände ist das King’s Gambling Board (KGB), das 1938 unter König Eduard VIII. gegründet wurde, der selbst ein begeisterter Glücksspieler war. Das KGB bildet SI S-Agenten aus und macht sie zu Experten für sämtliche Formen des Glücksspiels, vor allem für schwer verständliche Spiele, die in französischen Kasinos betrieben werden, bei denen man mit einer einzigen Karte viel Geld gewinnen oder verlieren kann. Das hält man bei britischen Spionen für unerlässlich, da die Möglichkeit, nebenbei ein bisschen schnelles Geld zu machen, sie davon abhält, eine externe Beschäftigung beim russischen Geheimdienst anzunehmen.
Das KGB wurde von My geleitet, auch wenn sie lange Zeit besser bekannt war als Lady Silvia Stone und als Leiterin einer Mädchenschule in Indien, ehe eine zufällige Begegnung mit Mr Rakshasas, dem damaligen Vertreter des britischen Geheimdienstes in Indien, dazu führte, dass sie sich dem MI5 und später dann dem MI6 anschloss.
My erklomm die Stufen, packte den faustförmigen Klopfer und pochte lautstark gegen die Tür.
Nach einiger Zeit wurde diese von Nimrod persönlich geöffnet.
»My!«, rief er. »Was für eine schöne Überraschung!« Er sah die
Weitere Kostenlose Bücher