Die Kinder des Kapitän Grant
ruchlose Hand gegen einen durch den Tabou Geschützten erhöbe, von der erzürnten Gottheit mit dem Tode bestraft werden. Sollte diese aber zögern, die ihr angethane Beleidigung zu rächen, so würden die Priester nicht verfehlen, diese Rache zu beschleunigen.
Der Tabou wird von dem Häuptling zu politischen Zwecken ausgesprochen; doch veranlassen das auch ganz gewöhnliche Vorkommnisse des Privatlebens.
Ein Eingeborener steht z.B. unter demselben während einiger Tage, wenn er sich das Haar schneiden ließ oder eben tättowirt worden war; wenn er eine Pirogue oder ein Haus baut; wenn ihn eine tödtliche Krankheit befällt oder er todt ist. Droht ein unvorhergesehener Verbrauch die Flüsse von Fischen zu entvölkern, oder die jungen Anpflanzungen der süßen Batate zu vernichten, so werden diese Objecte aus ökonomischen Rücksichten mit einem schützenden Tabou belegt. Will ein Häuptling Uebelwollende von seinem Hause entfernen, sich allein den Vortheil des Handels mit einem fremden Schiffe sichern, oder einen europäischen Waarenhändler, dem er nicht wohl will, in Quarantäne halten, so spricht er sein Tabou aus. Sein Einspruch ähnelt also nach vielen Seiten dem mittelalterlichen »Veto« der Fürsten.
Ist ein Gegenstand mit diesem Banne belegt, so darf ihn Niemand ungestraft berühren. Trifft er einen Eingeborenen, so sind diesem gewisse Speisen für eine bestimmte Zeit verboten. Wenn er nun etwa dieser strengen Diät unterliegt und gleichzeitig reich ist, so läßt er sich mit Hilfe seiner Sklaven diejenigen Gerichte, welche er nicht mit den Händen berühren darf, beibringen; ist er dagegen arm, so ist er darauf beschränkt, seine Nahrungsmittel gleich mit dem Munde aufzunehmen, und der Tabou erniedrigt ihn zum Thiere.
Alles in Allem leitet und modificirt diese eigenthümliche Sitte auch die geringfügigsten Handlungen des NeuSeeländers. Sie stellt das unablässige Eingreifen der Gottheit in sein gesellschaftliches Leben dar. Bei ihrer gesetzlichen Kraft kann man sagen, daß das ganze unbestreitbare und unbestrittene Rechtsverfahren bei den Eingeborenen in der häufigen Anwendung dieses Tabou besteht. Auch die in dem Waré-Atoua verwahrten Gefangenen hatte ein ganz willkürlicher Tabou zunächst den Wuthausbrüchen des erregten Stammes entzogen. Einige Eingeborene, die Freunde und Parteigänger Kai-Koumou’s, hatten auf die Stimme ihres Häuptlings sogleich eingehalten und die Gefangenen beschützt.
Trotzdem gab sich Glenarvan keinen Illusionen über das ihm bevorstehende Schicksal hin. Nur sein Tod konnte ja den Mord eines Häuptlings ausgleichen. Der Tod ist aber bei jenen wilden Völkerschaften immer erst das Ende langwieriger Martern. Glenarvan erwartete demnach, für die gerechte Entrüstung, die seine Hand bewaffnet hatte, grausam zu büßen, aber er hoffte, daß der Zorn Kai-Koumou’s ihn allein treffen werde.
Welche Nacht verbrachte er mit seinen Gefährten! Wer möchte ihre Angst wägen und ihre Leiden messen! Der arme Robert und der gute Paganel blieben verschwunden. Konnte man über ihr Loos in Zweifel sein? Sollten sie nicht die ersten Opfer der Rache der Eingeborenen sein? Es war ja alle Hoffnung geschwunden, selbst aus dem Herzen Mac Nabbs’, der doch nicht so leicht verzweifelte. John Mangles glaubte den Verstand zu verlieren, wenn er die düstere Verzweiflung der von ihrem Bruder getrennten Mary Grant sah. Glenarvan bedachte das fürchterliche Verlangen Lady Helena’s, welche, um sich der Marter oder der Sklaverei zu entziehen, den Tod von seiner Hand verlangte! Sollte er diesen furchtbaren Muth wirklich haben?
»Und Mary, was hatte denn diese verbrochen?« dachte John, dem das Herz fast zersprang.
Eine Flucht erschien vollkommen unmöglich. Zehn bis an die Zähne bewaffnete Krieger wachten am Thore des Waré-Atoua.
So kam der Morgen des 13. Februar heran. Zwischen den Eingeborenen und den Gefangenen kam es in Folge des über sie verhängten Tabou zu keiner Berührung. Der Raum enthielt etwas an Nahrungsmitteln, welche die Unglücklichen aber kaum anrührten. Ihr Hunger wich vor ihrem Schmerze. Ohne eine Aenderung ihrer Lage, aber auch ohne ihnen eine Hoffnung zu bringen, verging der Tag. Ohne Zweifel würde die Stunde für das Begräbniß des Häuptlings und die ihrer Martern gleichzeitig schlagen.
Wenn Glenarvan indeß der Meinung war, daß kein Gedanke an einen Gesinnungswechsel Kai-Koumou’s sein könne, so bewahrte der Major in dieser Beziehung doch noch einen Schimmer
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