Die Kinder des Kapitän Grant
Magazine, welche die Vorräthe des Chefs enthielten. In einiger Entfernung sah man Umzäunungen, in denen Schweine und Ziegen, seltene Abkömmlinge dieser durch den Kapitän Cook acclimatisirten nützlichen Thiere, sich tummelten. Hunde, welche einen mageren Bissen suchten, sah man in großer Anzahl umherlaufen. Sie waren als Thiere, deren Fleisch den Maoris täglich zur Nahrung dient, ziemlich schlecht genährt.
Glenarvan und seine Genossen hatten dieses Gesammtbild mit einem Blicke umfaßt. Sie erwarteten in der Nähe einer leeren Hütte das Urtheil des Chefs, nicht ohne den Beschimpfungen einer Bande alter Frauen ausgesetzt zu sein. Von diesen Harpyien wurden sie unter Heulen und Toben mit den Fäusten bedroht. Einige englische Worte, welche ihren wulstigen Lippen entschlüpften, ließen deutlich erkennen, daß sie ein sofortiges Todesurtheil erwarteten.
Mitten unter diesen Drohungen und Verwünschungen legte Lady Helena eine scheinbare Ruhe an den Tag, welche in ihrem Herzen nicht wohnen konnte. Diese muthige Frau hielt sich durch heroische Anstrengungen aufrecht, um Lord Glenarvan sein kaltes Blut zu erhalten. Die arme Mary Grant war einer Ohnmacht nahe, John Mangles unterstützte sie, bereit, sich tödten zu lassen, wenn es sie zu vertheidigen gälte. Seine Gefährten ertrugen alle diese Angriffe in verschiedener Weise, gleichgiltig wie der Major, oder übermannt von wachsendem Zorn wie Paganel. Glenarvan, welcher Lady Helena von diesen alten Megären befreien wollte, ging gerade auf Kai-Koumou zu, wies auf die ekelhafte Gruppe und sprach:
»Verjage sie!«
Der maorische Häuptling blickte seinen Gefangenen fest an, ohne ihm zu antworten; dann brachte er mit einer Handbewegung die heulende Bande zum Schweigen. Glenarvan verneigte sich, um seinen Dank auszudrücken, und kehrte langsam zu den Seinigen zurück.
In diesem Augenblicke waren in dem »Pah« etwa hundert Neu-Seeländer versammelt. Greise, Männer und Jünglinge, von denen die Einen ruhig, aber finster, die Befehle Kai-Koumou’s abwarteten, während die Anderen sich den Ausbrüchen eines heftigen Schmerzes überließen; diese beweinten ihre Verwandten oder Freunde, welche in den letzten Kämpfen gefallen waren.
Kai-Koumou kam von allen Häuptlingen, welche sich auf den Ruf William Thompson’s erhoben hatten, allein nach dem See zurück und brachte seinem Stamme die erste Kunde von der Niederlage der nationalen Erhebung in den Ebenen des unteren Waikato. Von zweihundert Kriegern, welche unter seinen Befehlen zur Vertheidigung des Landes herbeigeeilt waren, kehrten nur fünfzig zurück. Wenn davon auch Einige von den Siegern gefangen worden waren, so war die Zahl der Gefallenen doch eine furchtbare.
Das war der Grund der tiefen Verzweiflung, welche die Ankunft Kai-Koumou’s unter seinen Stammesgenossen hervorgerufen hatte. Die verhängnißvolle Nachricht, welche man bis dahin gar nicht geahnt hatte, wirkte niederschmetternd wie ein Blitzstrahl.
Bei den Wilden spricht sich der moralische Schmerz heftiger in den körperlichen Bewegungen aus. Die Verwandten und Freunde der gefallenen Krieger, besonders deren Frauen, zerrissen sich mit scharfen Muscheln Gesicht und Schultern. Das Blut rieselte aus den Wunden und vermischte sich mit ihren Thränen. Die unglücklichen Neu-Seeländer boten in diesem blutigen und rasenden Zustande ein Bild des Schreckens.
Ihre Verzweiflung wurde durch einen anderen Grund, der bei den Eingeborenen sehr in’s Gewicht fiel, noch vermehrt. Ihre Verwandten, ihre Freunde, welche sie beweinten, waren nicht nur todt, sondern ihre Gebeine fehlten auch in dem Familiengrabe.
Von dem Besitz dieser Ueberreste hängt nach der maorischen Religion das ganze zukünftige Leben ab; nicht das der Verwesung geweihte Fleisch, sondern die Knochen, welche sorgfältig gesammelt, gereinigt, polirt und selbst gefirnißt werden, werden in dem »Oudoupa«, d.h. »Haus des Ruhmes«, niedergelegt. Diese Gräber sind mit hölzernen Statuen geschmückt, welche die Tättowirung des Verstorbenen in vollkommener Genauigkeit wiedergeben.
Heute aber blieben die Gräber leer, die religiösen Ceremonien konnten nicht stattfinden, die theuren Gebeine bleichten, so weit sie von den Zähnen der wilden Hunde verschont wurden, auf dem Schlachtfelde.
Und bei diesem Gedanken verdoppelten sich die Ausbrüche des Schmerzes. Den Drohungen der Frauen folgten die Flüche der Männer gegen die Europäer. Immer lauter ertönten sie, immer wilder wurden die Geberden.
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