Die Kinder des Kapitän Grant
in welchem sie sich auf immer verirrt zu haben glaubten. Eine neue Hoffnung erstand aus den Ruinen ihrer gescheiterten Pläne. Sie konnten ohne Furcht das amerikanische Festland verlassen, und all’ ihre Gedanken flogen schon der australischen Erde zu. Indem sie den Duncan wieder zu besteigen vorhatten, brachten sie nicht die Verzweiflung mit, und Lady Helena sowie Mary Grant sollten nicht den unwiderruflichen Verlust des Kapitän Grant zu beweinen haben. So vergaßen sie denn die Gefahr ihrer Lage, um sich der Freude zu überlassen, und sie bedauerten nur das Eine, daß sie nicht ohne Aufschub abreisen konnten.
Es war jetzt vier Uhr Nachmittags. Man beschloß um sechs zu Abend zu speisen. Paganel wollte diesen glücklichen Tag durch ein glänzendes Festessen feiern. Da nun der Speisezettel ein sehr beschränkter war, schlug er Robert vor, »im nächsten Walde« auf die Jagd zu gehen. Robert klatschte bei diesem guten Gedanken in die Hände. Man nahm Thalcave’s Pulverbüchse, reinigte die Revolver und lud sie mit kleinem Blei; darnach brach man auf.
»Entfernen Sie sich nicht zu weit«, sagte der Major ernsthaft zu den beiden Jägern.
Nach ihrer Entfernung untersuchten Glenarvan und Mac Nabbs die in den Baum geschnittenen Merkzeichen, während Wilson und Mulrady die Kohlen des Herdes auf’s Neue anfachten.
Glenarvan, der bis zur Oberfläche des Sees hinabgestiegen war, sah kein Zeichen von Abnahme. Indeß schienen die Gewässer ihren Höhepunkt erreicht zu haben; doch bewies die Heftigkeit, mit welcher sie von Süden nach Norden strömten, daß das Gleichgewicht in den argentinischen Flüssen noch nicht wieder hergestellt sei. Ehe sie fiel, mußte diese flüssige Masse still stehen, wie das Meer in dem Augenblick, wo die Fluth aufhört und die Ebbe beginnt. Man konnte also auf ein Fallen der Gewässer nicht hoffen, so lange sie mit dieser stürmischen Schnelligkeit nach Norden flossen.
Während der Major und Glenarvan ihre Bemerkungen machten, knallten Schüsse im Baum, von fast ebenso lautem Freudengeschrei begleitet. Die helle Stimme Robert’s übertönte den Baß Paganel’s, man wußte nicht, welcher am meisten Kind war. Die Jagd fing gut an und ließ Wunderstücke für die Küche ahnen. Als Glenarvan und der Major an den Herd zurückgekehrt waren, mußten sie zuerst Wilson über eine gute Idee beglückwünschen. Dieser brave Seemann hatte vermittelst einer Nadel und eines Stück Bindfadens einen wundervollen Fischzug gethan. Mehrere Dutzend kleiner Fische, zart wie Stinte, »Mojarras« genannt, zappelten in einer Falte seines Puncho, und versprachen ein ausgezeichnetes Gericht.
In diesem Augenblick stiegen die Jäger von dem Gipfel des Ombu herab. Paganel brachte vorsorglich Eier von der schwarzen Schwalbe und eine Schnur mit Sperlingen, die er später unter dem Namen Drosseln vorzeigte.
Robert hatte geschickt mehrere Hilgueros, kleine grün und gelbe Vögel erlegt, die vortrefflich zum Essen und auf dem Markte zu Montevideo sehr gesucht sind. Paganel, der fünfzigerlei Arten kannte, die Eier zuzubereiten, mußte sich diesmal damit begnügen, sie in der heißen Asche hart werden zu lassen. Nichtsdestoweniger war die Mahlzeit ebenso abwechselnd wie delicat. Das trockene Fleisch, die harten Eier, die gerösteten Mojarras, die gebratenen Sperlinge und Hilgueros bildeten eines jener Festmahle, deren Erinnerung unverlöschlich bleibt.
Die Unterhaltung war sehr heiter. Man beglückwünschte Paganel in seiner doppelten Eigenschaft als Jäger und Koch. Der Gelehrte nahm diese Complimente mit der dem wahren Verdienst eigenen Bescheidenheit auf. Dann überließ er sich wunderbaren Betrachtungen über den prachtvollen Ombu, der sie mit seinem Laubdach schützte, und dessen Tiefe, ihm zufolge, unendlich sein mußte.
»Robert und ich, fügte er scherzend hinzu, glaubten uns während der Jagd in einem wirklichen Walde. Ich glaubte einen Augenblick, wir würden uns verirren. Ich konnte meinen Weg nicht wieder finden! Die Sonne neigte sich dem Horizonte zu, und ich suchte vergeblich die Spur meiner Schritte. Der Hunger meldete sich auf grausame Art, schon erschollen die finsteren Dickichte von dem Gebrüll wilder Thiere … Das heißt, nein! Es giebt ja hier keine wilden Thiere, und das bedaure ich!
– Wie, sagte Glenarvan, Sie vermissen die wilden Thiere?
– Ja, gewiß.
– Indeß, wenn man Alles von ihrer Wildheit zu befürchten hat …
– Die Wildheit existirt nicht, wissenschaftlich gesprochen,
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