Die Kinder des Ketzers
in Stücke gehackt wurden, in dem Weiber wie Männer ins Feuer geworfen wurden, weil sie sich weigerten, den unheiligen Eid zu schwören! Das Jahr, in dem die Menschen sich die Abhänge des Luberoun hinabstürzten, um dem Wüten der höllischen Mächte zu entgehen!»
Aha. Cristino atmete auf. Das Weib war offensichtlich nur eine der üblichen Irren, die auf den Marktplätzen herumsaßen und den Vorbeilaufenden zuriefen, dass nächsten Freitag die Welt unterginge, weil Saturn und Jupiter in einer ungünstigen Konstellation standen oder weil der heilige Jakobus es ihnen im Traum geweissagt hatte. «Nun, ähm, gut, ich gehe jetzt besser, da geht’s zum Ausgang, oder?»
«Ihr tragt das Medaillon», sagte die Frau mit einem befriedigten Lächeln.
«W…wie?»
«Das Medaillon», wiederholte die Frau und wies auf das silberne Schmuckstück auf Cristinos Brust. «Sie hat Euch erwählt.»
«Wie bitte? Wer?»
Die Frau lächelte versonnen. «Agnes. Meine kleine Agnes.»
Cristino fühlte, wie ihre Knie weich wurden. Die Inschrift auf dem Medaillon. Sie beschütze dich, Agnes, Sonne unseres Lebens.
«Agnes?» wiederholte sie schwach.
«Sie war unser aller Sonnenschein», sagte die Frau und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. «Sie war ein Engel, den Gott auf Erden vergessen hatte, unsere Agnes. Jetzt», sie schluchzte,
«ist sie ein wirklicher Engel und spielt zu Gottes Füßen.»
«War sie… deine Tochter?», fragte Cristino unsicher.
«Nein… nein. Ihre Eltern nahmen mich in ihrer unendlichen Güte bei sich auf, damals, in der Zeit der Verfolgung. Zum Dank und um mein Brot zu verdienen, kümmerte ich mich um die Klei277
nen. Aber ich liebte sie, versteht Ihr, wie mein eigenes Kind!» Sie rang die Hände.
«Die Kleinen? Es waren mehrere Kinder?»
Die Frau lächelte jetzt wieder, verloren in einer süßen Erinnerung, während ihr immer noch Tränen über die Wangen liefen.
«Prächtige Kinder, allesamt, ein braver kleiner Bub, und süße kleine Mädchen. Doch jetzt sind sie tot, alle sind sie tot, die armen, unschuldigen kleinen Geschöpfe! Sie haben uns alle fortgeschickt, als sie tot waren, aber ich komme noch immer hierher, um ihr Andenken zu bewahren.»
«Sie sind gewiss an einer Krankheit gestorben?», mutmaßte Cristino. Ihr Mund war staubtrocken.
«Wären sie an einer Krankheit gestorben, hätte es Gott in seiner Güte gefallen, sie zu sich zu rufen, ich hätte längst meinen Frieden mit dem Schicksal gemacht», zischte die Frau heftig. «Doch ihr Tod war eine furchtbare Untat! Sie wurden ermordet, von einer wahnsinnigen Hexe, die Gott in die tiefsten Tiefen der Hölle verbannen möge! Oh Gott, warum haben sie mich nicht mitgenommen, als sie damals fortfuhren, ich hätte sie doch beschützen können, ich hätte sie behütet, Gott, warum nur? Die armen, unschuldigen Kinder…
vier Jahre war sie alt, meine kleine Agnes, als die Hände der Wahnsinnigen sie erwürgten und verstümmelten, meine süße, kleine Agnes, dieses blühende, fröhliche kleine Ding! Oh Gott, warum hast du das zugelassen?»
Ein Schwindel ergriff Cristino, sie spürte, wie Übelkeit in ihr hochstieg, sie musste weg hier, fort von diesem Weib und diesem vermaledeiten Garten, heftig wollte sie sich zum Gehen wenden, doch das Weib griff nach ihrem Arm, harte Finger gruben sich in ihre Haut, und sie flüsterte: «Etwas von ihnen ist zurückgeblieben an diesem Ort. Manchmal, wenn es still ist, hört man sie lachen und rufen, und dann sieht man sie manchmal, die Kinder, wie sie durch den Ort ihrer glücklichen Kindheit streifen und spielen und toben wie einst.» Sie sah Cristino prüfend an und sagte zufrieden:
«Ihr habt sie auch gesehen, nicht wahr?»
Sie dachte an das Bild, das am Teich durch ihren Geist gehuscht war, der blonde Junge und die beiden Mädchen, sie dachte an das Bild des blonden Kindes, das hinter der Schaukel stand. Geh runter, 278
ich bin dran, hatte es gesagt. Meine Schaukel. Heftig riss Cristino sich los. «Das ist Unsinn!», rief sie. «Tote kommen nicht zurück!»
«Manchmal schon!», sagte die Frau lächelnd. «Manchmal werden sie gerufen.» Und zu Cristinos hellem Entsetzen griff sie nach dem Medaillon und sagte: «Dies ist das Bindeglied. Maria, die heilige Jungfrau, hat ein Band gewebt zwischen Euch und meiner kleinen Agnes. Ich spüre, wie ihre unschuldige Seele in Euch wirkt, mein Kind. Seid beruhigt, sie wird Euch immer nahe sein.»
Cristino fand es alles andere als beruhigend, den Geist
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