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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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griff mit beiden Händen nach den Seilen und setzte sich auf das Sitzbrett. Die Seile knarrten etwas, ein Knacken durchlief den Sitz, aber die Schaukel hielt. Einen Augenblick lang saß sie nur so da und starrte auf ihre Schuhe, die sich knapp über dem Erdboden schwebend sachte durch das Gras bewegten. Dann begann sie, sich anzustoßen.
    Cristino liebte es zu schaukeln. Dieses Gefühl des Schwebens, der Wind, der ihr über das Gesicht strich, das Auf und Ab der Welt ringsumher und vor allem dieser winzige, grenzenlose Moment unendlicher Freiheit, wenn die Schaukel ihren Wendepunkt erreicht hatte, so als brauche man nur loszulassen und die Arme auszubreiten, um davonzufliegen wie ein Vogel. Kräftiger stieß sie sich an, höher flog die Schaukel, laut knarrten die Seile, bebte der Ast, ihre Füße stießen hinauf ins Grün riesiger Baumkronen, ihr Kleid bauschte sich, flatterte auf bis zu ihrer Brust, sie warf den Kopf zurück, schloss die Augen und fühlte, wie ihr Haar im Wind flog…
    Dann spürte sie es. Sie wurde beobachtet. Ganz deutlich fühlte sie plötzlich den Blick in ihrem Rücken, den Blick eines kleinen Mädchens mit blonden Locken, das sie mit gerunzelter Stirn anblickte. Geh runter, sagte das kleine Mädchen. Ich bin jetzt dran. Cristino spürte, wie Angst ihre Kehle zudrückte, da ist niemand, du bist alleine, aber nein, sie fühlte es doch, fühlte den Blick des Mädchens, sah, wie ihre Lippen sich bewegten, hörte fast die wütend gemurmelten Worte, ich bin dran, geh runter von meiner Schaukel, sofort! Cristinos Atem beschleunigte sich, ihr Herzschlag übertönte das Knarren der Schaukel, die Hände fest um die Seile geklammert drehte sie sich um.
    Sie wäre vor Entsetzen beinahe von der Schaukel gefallen. 275
    Hinter ihr stand in der Tat jemand. Kein kleines Mädchen mit blondem Haar, sondern ein altes, in Lumpen gekleidetes Weib, in dessen faltigem Gesicht zwei dunkle Augen glühten. So schnell war Cristino noch von keiner Schaukel heruntergekommen. Keuchend stolperte sie ins Gras, wobei sie sich beim Aufkommen mit ihren zierlichen Schuhen den Knöchel verstauchte. Doch die Angst würgte ihr Jammern ab, mit geweiteten Augen klammerte sie sich an eines der Seile, während das Sitzbrett der Schaukel wild hin und her pendelte.
    Das Weib trat auf sie zu. So alt war sie gar nicht, schien es Cristino, das Gesicht war faltig, aber nicht runzelig wie bei einer Greisin, sie ging langsam, den Kopf zwischen den Schultern vorgebeugt, aber ihr Rücken war nicht rund wie bei den alten Bauersfrauen, und die derbe Haut, die die magere Hand umspannte, welche jetzt mit einem ausgestreckten Zeigefinger in Cristinos Richtung wies, war noch nicht brüchig und fleckig wie im hohen Alter.
    «Guten Tag», sagte Cristino schüchtern.
    Das Weib schritt weiter, der Finger wies wie ein Dolch auf Cristinos Herz. «Was tut Ihr hier?», krächzte sie mit heiserer Stimme.
    «Warum stört Ihr die Ruhe der Toten?»
    Oh je, das klang gar nicht gut. Genau genommen klang das verdächtig nach einer jener Gruselgeschichten, in denen sich die vorwitzige Magd nachts auf den Friedhof schleicht, und dann tritt ein Ritter im schwarzen Gewand auf sie zu und fragt: Was störst du die Ruhe der Toten?, und am nächsten Tag findet man die ausgebleichten Gebeine der Magd zwischen den alten Grabsteinen…
    «Wie-wie-wieso? T-Tote?»
    «Dies ist ein Ort der Trauer! Ein Ort des Gedenkens an die, die nicht mehr sind!», fauchte die Frau.
    Cristino sah sich ängstlich um. «Ist das… ist das hier ein Friedhof? Ich… ich dachte, es gehört noch zu dem Garten…» Wie blödsinnig diese Worte waren, wurde ihr bewusst, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte – oder hatte man jemals von einem Friedhof mit Schaukel gehört? Die Frau schien ihre Worte aber durchaus ernst zu nehmen, sie schüttelte den Kopf und sagte: «Sie sind hier nicht begraben. Hier war der Ort, wo sie lebten, wo sie glücklich waren, bevor das Verhängnis über uns alle hereinbrach…» Das 276
    klang jetzt mehr nach einer Rührszene aus einem Amadís-Roman als nach einer Gruselgeschichte, und Cristino wurde langsam etwas ruhiger. «Welches Verhängnis?», fragte sie neugierig.
    «Das Jahr des Schreckens!», fuhr das Weib auf sie los, dass Cristino einen Satz rückwärts machte. «Das Jahr, in dem Satanas auf Erden wandelte und dieses Land in höllischer Glut ertränkte. Das Jahr, in dem Jungfrauen vor den Portalen der Kirche geschändet und kleine Kinder vor den Augen ihrer Eltern

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