Die Kinder des Ketzers
und war somit deren natürlicher Feind. Also, warum sollte ein Edelmann ihm zu Hilfe kommen?»
«Er hatte vielleicht Ideale», mutmaßte Loís. «Wisst Ihr, die alten ritterlichen Ideale. Beschützen der Schwachen und so.»
«Muss ein schöner Verrückter gewesen sein!», murrte Fabiou.
«Nicht verrückter als Ihr.» Loís sprang auf und reckte theatralisch eine Hand zum Himmel. «Fabiou Kermanach de Bèufort, unermüdlicher Kämpfer für die Wahrheit!»
«Idiot.» Fabiou lachte und kickte eine Handvoll Stroh in seine Richtung. «Aber… egal, wie dieser Carfadrael war, mich würde vor allem interessieren, wer er war. Und was er mit Trostett zu tun hatte. Trostett war ja wahrhaft besessen von ihm. ‹Als wäre jeder Baum, jeder Strauch eine Erinnerung, als flüstern sie alle jenen Namen, alle. Ich höre ihn im Rauschen des Windes und im Trommeln der Pferdehufe auf der Straße und im Gurgeln des Wassers am Wegesrand, immer derselbe Name, immer nur Carfadrael›», zitierte er.
404
«Sagt mal, könnt Ihr den ganzen Brief auswendig?», fragte Loís zweifelnd.
«Ich hab ihn ja auch nur grob hundert mal gelesen.» Fabiou seufzte. «Oh, Loís, ich habe das Gefühl, vor einem Riesenhaufen bunter Steine zu sitzen und zu versuchen, sie zu einem Mosaik zusammenzulegen, von dem ich nicht mal das Motiv kenne!» Er stand auf und klopfte sich das Stroh von den Kleidern. «Ich brauche frische Luft. Ich gehe spazieren.»
«Jetzt?» Loís betrachtete ihn zweifelnd. «Es hat gerade elf Uhr geschlagen. Wenn Euer Vater das merkt…»
«Ach, der denkt, ich liege in meinem Bett, wie soll er das merken! Kommst du mit?»
«Geht alleine. Ich muss das Kapitel noch fertig lesen», meinte Loís.
Fabiou seufzte. «Echt schade, dass du ein Diener bist. Du müsstest eigentlich studieren, so wie du immer an deinen Büchern klebst. Jurisprudenz am besten, so wie du argumentierst.»
«Ja. Schade, nicht wahr?», sagte Loís.
Die Straße empfing Fabiou mit friedlicher Stille. Drüben im Haus brannte noch Licht. Onkel Philomenus hatte ein paar seiner carcistischen Freunde zu Gast, darunter den St. Roque, den Faucoun, den Goult und die Gebrüder Forbin, offenbar wollte man noch auf das Seelenheil des verblichenen Senher Bossard anstoßen, doch die Fensterläden waren geschlossen und ihre Stimmen drangen nicht auf die Straße hinaus. Es war eine wunderbar klare Nacht, das weiße Band der Milchstraße zog sich wie ein Nebelstreif über einen sternenübersäten Nachthimmel. Fabiou lief langsam, die Hände in den Gürtel eingehängt, wobei er vermied, zu nahe an die Häuser zu beiden Seiten heranzutreten. Es war zwar nicht die typische Zeit für die Bewohner, ihre Nachttöpfe auszuleeren, aber man weiß ja nie.
Er erreichte die Plaço de Sant Sauvaire. Stille. Einsam die Kathedrale, verlassen die Universität. Das Haus des Parlamentspräsidenten Oppède lag in völliger Dunkelheit. Seltsam, dass ihm gerade jetzt wieder die Frau von der Plaço dis Erbo einfiel. Marguérite Carbrai, Kaufmannswitwe. Protestantische Kaufmannswitwe, um genau zu sein. So hatten die Markt405
frauen gesagt, und auch die Kleidung, die für eine katholische Frau selbst als Witwe zu streng gewesen wäre, passte dazu. Jesus, was steckte da wieder dahinter? War es denkbar, dass Frederi, der ach so fromme Moralapostel, eine maîtresse hatte? Noch dazu eine bürgerliche maîtresse ? Noch dazu eine bürgerliche protestantische maîtresse ?
Der Gedanke tat weh.
Fabiou bog in die Carriero drecho ein. Bei Tag fiel einem gar nicht so auf, wie steil die Straße Richtung Stadtzentrum hin abfiel. Höchstens wenn man zu Pferd unterwegs war und dauernd Gefahr lief, über den Hals des Tieres abzurutschen. Aber zu Fuß kam einem der Weg ziemlich eben vor. Jetzt, bei Nacht, wo man ständig Gefahr lief, über eine Ritze zwischen den Pflastersteinen zu stolpern oder im Unrat auszurutschen, war der Weg verdammt steil!
Er bremste. Er hielt den Atem an. Er glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.
Jemand sang.
Es war eine Melodie, die er kannte, solange er denken konnte, die er schon als Kleinkind die Bauern hatte singen hören, eine Melodie so alt wie seine Erinnerung.
Aqueli mountagno.
Aber der Text war ein anderer.
«Joan siéu lou pastre
vive dins lou valloun
voule lou argent dis
cavalié e baroun.»
«Ich bin Joan der Schäfer,
lebe im Tal,
stehle das Geld
dem Cavalié und dem Baroun.»
Einen Moment lang stand Fabiou wie erstarrt. Dann war er mit einem Satz an der Wand des
Weitere Kostenlose Bücher