Die Kinder des Ketzers
ziemlich katholisch sein muss», meinte Fabiou. Victor lachte auf. «Extrem katholisch», sagte er. «Der Carcès ist ein wahrhaft glühender Verfechter des katholischen Glaubens, eine Tugend, in der ihn allenfalls noch sein jüngerer Bruder, Duran de Pontevès, überbietet. Aber das ist es nicht allein, wofür er berühmt ist. Jean de Pontevès, Graf von Carcès – er ist so eine Art Volksheld, anders kann man es kaum nennen. Der Kerl war gerade mal Anfang zwanzig, als er 1536 in der Prouvenço den Widerstand gegen die einmarschierenden Kaiserlichen mobilisiert hat. Von ihm stammt die Politik der verbrannten Erde. Er hat eigenhändig Feuer an seine Felder und seine Vorratsspeicher gelegt, und das hat den Rest der Gegend, Edelleute wie Gemeine, so beeindruckt, dass sie es ihm gleichtaten. Die Folge war zwar eine der schlimmsten Hungersnöte der letzten hundert Jahre, aber der Kaiser musste sich schließlich aus der Prouvenço zurückziehen. Später ist der Carcès als Offizier in den Dienst des Königs getreten und hat als Truppenführer und schließlich als Flottenkommandant seinen Kampf gegen den Kaiser fortgesetzt. Vor sieben Jahren hat er mit seiner Flotte in Spanien das Fort de Palamos eingenommen und den guten Andrea Doria vernichtend geschlagen.»
«Andrea Doria? Der ist doch ziemlich berühmt, oder?», fragte Fabiou stirnrunzelnd.
«Kann man wohl sagen. Er gilt als der beste Seekommandant, der je gelebt hat», meinte Victor grinsend. «Und ich schätze, dem Kaiser könnte man kein besseres Geschenk machen als Carcès’
Kopf auf einer Schüssel wie einst den von Johannes dem Täufer.»
«Und? Hat sich dein Onkel auch mit dem Carcès angelegt?»
Victor seufzte tief. «Zuzutrauen wäre es ihm.»
Ein ganz neuer Aspekt. Interessant. «Trauerst du noch immer um deinen Onkel?», fragte Fabiou mitleidig.
«Ach, was soll’s.» Victor zuckte unwirsch mit den Achseln. «Damals sind so viele Menschen gestorben, der Arrêt de Mérindol war 455
gerade erst ein paar Wochen her. Gott, wenn ich an die Labarres denke… die haben auch ihren einzigen Sohn damals verloren.»
«Labarre?» Fabiou runzelte die Stirn. Der Name kam ihm bekannt vor. «Moment – war das nicht der, der in Lauri – ähm –»
«Raymoun de Labarre, ja.» Victor nickte düster. «Du kennst die Geschichte, nehme ich an.»
«Na ja – was man so erzählt…»
«Gott, stell dir mal vor, du müsstest in dem Bewusstsein leben, dass ein Mensch, den du geliebt hast, so grausam ermordet worden ist.» Victor schüttelte heftig den Kopf.
«Hast du ihn gekannt?»
«Ich erinnere mich nur noch dunkel an ihn, aber mein Vater kannte ihn ziemlich gut», sagte Victor.
«Warum hat er das getan – ich meine, er muss doch gewusst haben, dass er gegen dieses Söldnerheer keine Chance hatte», meinte Fabiou nachdenklich.
Victor zuckte mit den Achseln. «Er muss einer von denen gewesen sein, die Feuer und Flamme für die Ideale des alten Rittertums waren. Immer auf den Spuren von Richard Coeur de Lion. Ein Riesenkerl, stark wie ein Bär, und die ganze Zeit entweder mit Schwertkämpfen beschäftigt oder damit, Ritterromane zu lesen und Gedichte zu schreiben, auf Provenzalisch natürlich. Wahrscheinlich hat er ein Leben lang davon geträumt, Jungfrauen vor Drachen zu retten oder die Mauern von Jerusalem zu erstürmen. Vielleicht sollte man ihn nicht allzu sehr bedauern. Merindou war sein Kreuzzug, Fabiou, und er ist gestorben als der Held seiner eigenen Geschichte.»
Fabiou starrte Victor mit offenem Mund an angesichts dieser erstaunlichen Charakterisierung des jungen Labarre. Victor war ein ungewöhnlicher Mensch, so farblos sein Äußeres war. Und einer plötzlichen Eingebung folgend sagte er: «Victor – sagt dir eigentlich der Name Carfadrael etwas?»
Einen Moment lang starrte Victor ihn verblüfft an, dann lachte er auf und sagte: «Carfadrael? Carfadrael ist eine Legende!»
Crestins Worte. Fabiou war grenzenlos enttäuscht. «Du glaubst also auch nicht, dass es ihn wirklich gegeben hat?», meinte er. 456
Doch zu seinem Erstaunen entgegnete Victor: «Oh, ich denke schon, dass es ihn wirklich gegeben hat. Aber eine Legende ist er trotzdem! Der heldenhafte Beschützer der Armen und Schwachen, der geheimnisvolle Wächter des Luberoun, der unermüdliche Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit – es gibt in dieser Gegend etwa so viele Geschichten über ihn und seine geheime Bruderschaft wie über Raymoun de Turenne, die Geißel der Provence
– bloß
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