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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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schönere.»
    «Was für Geschichten denn?», fragte Fabiou neugierig.
    «Oh, von ausgebeuteten Bauern, die er gegen ihre machtgierigen Herren verteidigt hat, von unschuldig Verurteilten, die er vor dem Galgen gerettet hat, und so weiter. Wie in den schönen alten Rittersagen eben. Der edle Ritter, der die einfachen Leute beschützt. Onkel Hector hat mir einige von diesen Geschichten um Carfadrael erzählt, damals. Und die übrigen kenne ich von den Bauern aus unseren Dörfern.»
    «Und wer war er, dieser Carfadrael?», fragte Fabiou.
    «Das weiß keiner. Ein Adliger, heißt es. Oder ein Geist. Keine Ahnung. Er tauchte auf aus dem Nichts, und ebenso plötzlich verschwand er einige Jahre später wieder, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen. Eine seltsame Geschichte, wirklich. Aber die Menschen lieben sie. Onkel Hector liebte sie. Carfadrael war eine Figur so richtig nach seinem Geschmack.» Er seufzte wieder. Er vermisst seinen Onkel wirklich, dachte Fabiou. «Was ist eigentlich aus den Mädchen geworden?», fragte er unvermittelt. «Ich habe dich doch richtig verstanden – dein Onkel hatte noch drei Töchter, oder?»
    Victor sah ihn seltsam an. Sehr seltsam. «Nun, sie sind tot», sagte er. «Ich dachte, das wüsstest du.»
    Und in diesem Moment fuhr der Blitz nieder.
    Binnen Sekunden herrschte ein apokalyptisches Durcheinander. Die Weiber kreischten, die Männer fluchten, die Pferde wieherten und stiegen, die Hunde zogen jaulend den Schwanz ein, doch lauter als alle Geräusche, die Mensch und Tier hervorzubringen vermochten, heulte der Sturm und brüllte der Donner und brauste der Regen auf den Wald hinab, den Boden in Schlamm verwandelnd und alles bis auf die Haut durchnässend. «Zum Haus!», brüllte der Senher d’Astain, «zum Haus!», brüllte Victor, und schreiend, jam457
    mernd und lamentierend kämpfte sich die Jagdgesellschaft durch den sturmgeschüttelten Wald, der sicheren Behausung zu. Sie brauchten vermutlich keine Viertelstunde, um das Anwesen zu erreichen, doch es kam allen eine Ewigkeit vor. Besonders das letzte Stück, über die freie Fläche vor dem Gebäude, von Blitzen umzuckt und ohne jeden Schutz vor dem Regen, war ein Albtraum. Es goss wie aus Kübeln, die Pferde schlitterten im aufgeweichten Gras, und ringsum feuerte der Himmel Blitze nieder, dass selbst die tapferen jungen Burschen kreideweiß um die Nase waren. Schließlich erreichte die Gesellschaft dann aber doch ohne größere Verluste den Hof, und der Senher d’Astain rief nach seiner Dienerschaft, die tropfnassen Damen in die Gemächer zu geleiten und ihnen dabei zu helfen, sich wieder in einen vorzeigefähigen Zustand zu bringen. Zum Glück hatte fast jeder der Gäste eine komplette Abendgarderobe auf dem Anwesen stationiert.
    Victor, der mit Fabiou die Nachhut gebildet hatte, wollte sich gerade ebenfalls ins Trockene zurückziehen, als ihm, nass und kreidebleich, dessen Stiefvater entgegengestürmt kam, in Begleitung eines ziemlich erbosten Alexandre de Mergoult. «Wo ist Cristino?», brüllte der Cavalié.
    «Cristino? Eure Tochter?»
    «Ja! Wir sind im Wald voneinander getrennt worden! Ist sie hier?»
    «Ich weiß nicht… ich habe sie nicht gesehen…», meinte Victor. Fabiou schwieg vorsichtshalber. Frederi bedachte Alexandre de Mergoult mit einem bitterbösen Blick und ließ ihn stehen. Letzterer stieß einen Fluch aus, drehte sich um und rannte den Weg zurück, den er gekommmen war.
    Victor schüttelte den Kopf und lief ins Haus. Fabiou blieb auf der Schwelle stehen und blickte beunruhigt zum Wald zurück, der grell im Licht der Blitze flackerte. Weiber waren doof, das war klar, aber dass Cristino so doof sein sollte, bei dem Gewitter im Wald zu bleiben, konnte er sich dann doch nicht vorstellen. Jemand glitt an seine Seite, eine graue Gestalt, die schütteren Haare triefend, die verdreckten Lumpen schwer vor Nässe. Man brauchte Fantasie, um St. Roques Bauern zu erkennen. «Keine gute Zeit für den kleinen Mann, Senher», flüsterte er. «Keine gute 458
    Zeit.» Und bevor Fabiou es verhindern konnte, fasste die schmutzverklebte Hand des Alten nach der seinen und schob ihm etwas zwischen die Finger.
    Der Regen stürzte wie ein Vorhang herab und verschluckten den Bauern, der in den Sturm hinaus rannte. Fabiou stand auf der Türschwelle und starrte auf seine Handfläche, auf der ein eingerollter, papierdünner Holzspan lag, so breit wie sein Daumen lang, mit unglaublicher Sorgfalt von seinem Untergrund abgehobelt. Vorsichtig,

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