Die Kinder des Ketzers
Schläfen gepresst. Fabiou ließ sich auf den Stuhl vor der Frisierkommode gleiten. Er hatte plötzlich das sichere Gefühl, dass seine Füße ihn keine zwei Sekunden mehr tragen würden.
Über Frederis Gesicht strömten Tränen. «Sag das nicht, bitte», schluchzte er. «Sag das nie, nie wieder!» Dann stürzte er aus der Tür.
Fabiou starrte wieder in den Spiegel. Er war in seinem ganzen Leben noch nicht so müde gewesen.
***
«Und als Letztes kam dann das As der Kelche, und er hat gesagt, Agnes wäre wichtiger als man denkt oder so», meinte Frederi Jùli eifrig.
«Nein, das stimmt nicht», widersprach Catarino. «Die letzte Karte war der Ritter der Kelche, und er hat angedeutet, dass das Fabiou sei.»
Fabiou, der eifrig auf einem Stück Papier mitkritzelte, war ernsthaft beeindruckt. Er hielt immer große Stücke auf sein fantastisches Gedächtnis, aber das war offensichtlich nichts gegen Catarinos Erinnerungsvermögen. Sie hatte Hannes’ Tarot quasi wortwörtlich im Kopf.
Er war seinem Vorsatz, seine Geschwister fortan aus der Angelegenheit herauszuhalten, untreu geworden. Es ging nicht anders. Er hatte Hannes’ Worte nicht mehr exakt genug in Erinnerung. 699
Also saßen sie jetzt, am Abend des 14. Juni – das Gewitter hatte sich über der Stadt verzogen – im Studierzimmer um den großen Tisch und rekonstruierten Hannes’ Tarot. Bei ihnen war Victor. Er war gekommen, um sich nach Cristinos Befinden zu erkundigen, und nachdem er von Fabious jüngsten Erlebnissen gehört hatte, war er nicht mehr dazu zu bewegen, das Haus wieder zu verlassen. Ein Umstand, der Frederi noch tiefer in Melancholie zu stürzen schien.
Fabiou sah extrem mitgenommen aus. Zwar hatte er trockene Sachen an, und seine Haare waren gekämmt, doch sein Gesicht war so bleich, dass die Sommersprossen darin grau wie Schiefer waren, und die Hand, die die Schreibfeder hielt, zitterte so sehr, dass sie dauernd Tintetropfen auf dem Papier verteilte. Docteur Grattou war da gewesen, hatte seine Wunden inspiziert und ihm einen Verband um den Hals gewickelt. Er hatte ihn dabei seltsam angesehen, so wie man als Arzt vielleicht einen Pestkranken ansieht, bei dem man sich anzustecken fürchtet, und entsprechend hastig hatte er nach getaner Arbeit den Raum verlassen. Fabious Mutter, die völlig aus dem Häuschen war, seit sie von dem Überfall auf Fabiou erfahren hatte, und sich die ganze Zeit bekreuzigte und zur heiligen Jungfrau Maria jammerte, hatte ihn allerdings auf dem Gang abgefangen und zu ihrer Tochter geschleift. Sie ist schwermütig, hatte sie dem Docteur zugeflüstert. Ihr müsst etwas tun, bevor sie noch ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt gefährdet. Docteur Grattou hatte Cristino untersucht, auf ihre Lunge gehört und ihren Puls gefühlt und war dann zu dem Schluss gekommen, dass es sich um eine besonders ernste Form der humoralen Dyskrasie handelte, die zweifellos durch eine verhaltene Monatsblutung bedingt war, und um diesem Umstand abzuhelfen, führte er erst mal einen ordentlichen Aderlass durch, mit dem Ergebnis, dass Cristino jetzt bleich wie eine Leiche auf ihrem Bett lag und nicht mal hätte aufstehen können, wenn sie es gewollt hätte. So kam es, dass die Besprechung im Auban’schen Studierzimmer ohne sie stattfand. Und ohne Loís. Er war nicht zu bewegen, von Cristinos Seite zu weichen.
«Also», Fabiou räusperte sich, «ich lese es noch einmal vor. Die vier Könige. Der König der Schwerter, der König der Kelche, der 700
König der Münzen und der König der Stäbe. Zwischen zweien von ihnen, dem König der Kelche und dem König der Stäbe, und den anderen beiden ist ein Krieg entbrannt. Ein Kampf auf Leben und Tod. Und auf die Frage, worum es bei dem Krieg geht, hat Hannes geantwortet, um dasselbe wie immer, Geld, Macht und Besitz, der wahre Grund jedes Krieges. Dann hat er noch etwas über die einzelnen Könige gesagt. Zunächst über den König der Schwerter. Er habe Armeen zur Verfügung und könne mit einem Wort über Leben und Tod entscheiden. Demgegenüber seien der König der Stäbe und der König der Kelche edel und gut, und sie stünden zwischen ihm und dem König der Münzen.»
Fabiou seufzte und rieb sich die brennenden Augen. «Dann der König der Stäbe. Hannes sagt, er hat nichts und er ist nichts, aber hinter ihm steht die Macht der Unzähligen oder des Unzählbaren. Der König der Kelche dagegen steht für das Ideelle, die Gerechtigkeit, das Gute und Wahre.» Fabiou rieb wieder seine Augen.
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