Die Kinder des Ketzers
Ansteckung schützen.»
Hinterher starrte sie fast eine Viertelstunde lang verzückt auf diesen Satz. Er klang doch glatt, als sei er von einem großen Wissenschaftler geschrieben worden. 705
***
An eben diesem Morgen, dem 15. Juni also, hatte Fabiou eine schicksalshafte Idee. In der Tat traf er in seinem ganzen Leben keine Entscheidung mehr, die sein Schicksal – und nicht nur seines
– derart beeinflusste. Und das, obwohl die Idee an sich eher harmlos war.
Er fing an jenem Morgen Catarino und Frederi Jùli auf dem Gang ab und meinte: «Ich habe eine Idee!»
«Oh!», rief Catarino erfreut, der gerade alles als Abwechslung recht kam. Sie war in ihrer Unternehmungslust mittlerweile in der Tat so weit gegangen, sich auf dem Hof von Loís’ Bruder Jacque das Reiten im Herrensitz beibringen zu lassen – zum Entsetzen ihrer Mutter, die sie, kaum dass sie davon Wind bekam, sofort wieder nach drinnen zitierte und ihr in schauerlichsten Farben ausmalte, was aus Mädchen wurde, die derart gegen jeden Benimm verstießen. «Was denn?»
«Wisst ihr, ich denke, um Hannes’ Tarot vollends enträtseln zu können, müssen wir vielleicht etwas mehr über das Tarot an sich wissen. Das heißt, wir müssen jemanden fragen, der sich mit dem Tarot auskennt», sagte Fabiou.
«Wen willst du denn da fragen?», meinte Catarino
verständnislos.
«Na, wen wohl! Die alte Wahrsagerin! Die, die Cristino die Zukunft vorausgesagt hat!»
« Intrigant !», hauchte Catarino.
«Ich komme mit!», schrie Frederi Jùli begeistert.
«Ich auch!», sagte Catarino.
«Das geht doch nicht!», meinte Fabiou. «Du hast schließlich Hausarrest!»
«Ach, wir schleichen uns einfach vom Hof, wenn keiner hinsieht. Mir reicht’s jetzt mit dem blöden Hausarrest!»
Fabiou nickte. «Von mir aus. Aber wir nehmen Loís mit. Für alle Fälle», meinte er unbehaglich.
Loís, den sie natürlich in Cristinos Zimmer fanden, war alles andere als begeistert. «Fabiou, es ist zu gefährlich», sagte er. «Was, 706
wenn dieser Irre wieder auftaucht, der dich umbringen will? Ich halte das Ganze für keine gute Idee.»
«Ich halte es aber für eine sehr gute Idee», sagte eine Stimme vom Fenster. Erstaunt sahen sich alle um.
«Cristino?», fragte Catarino geplättet.
Sie saß am Tisch unterm Fester, das Gesicht etwa so weiß wie ihr Nachthemd – daran war der Aderlass schuld –, aber ansonsten sah sie erstaunlich gut aus, ihre Augen waren ausnahmsweise weder gerötet noch hinter einem Tränenschleier verschwunden. «Und im Übrigen», erklärte sie, «komme ich mit.»
Catarino verdrehte die Augen. «Wehe, du nervst wieder alle mit deinem Gerede von Agnes Degrelho!», nörgelte sie.
«Mache ich nicht. Übrigens habe ich einen Entschluss gefasst.»
Sie sah Aufmerksamkeit heischend in die Runde. «Ich habe beschlossen, dass Fabiou recht hat – es gibt keine Geister. Das mit Agnes, das habe ich mir wahrscheinlich nur eingebildet, wegen der Geschichte, die uns die Buous erzählt haben, und wegen des Geredes dieses alten Weibes», erklärte sie. Ihre Stimme klang allerdings ein kleines bisschen wackelig bei diesen Worten, und als sie bemerkte, dass alle sie mit offenem Mund ansahen, wiederholte sie wütend: «Es gibt keine Geister. Ich komme mit!»
Fabiou schlug sich fassungslos an die Stirn, aber immerhin schmolz Loís unter Cristinos flehentlichem Blick dahin. «Also gut», murrte er. «Wann soll das Ganze stattfinden?»
«Warum nicht gleich morgen?», meinte Catarino strahlend. Frederi Jùli stieß einen Jauchzer aus.
Und so kam es, dass am Vormittag des 16. Juni die Bèufort-Geschwister samt Frederi Jùli und Loís in einer unbeobachteten Minute vom Hof der Aubans liefen und sich auf den Weg zur Porto dis Augustin machten. Die Stimmung war großartig – bei Catarino und Frederi Jùli, weil endlich mal etwas los war, bei Cristino aufgrund ihres heroischen Entschlusses bezüglich der Existenz von Geistern – Aderlässe hatten offensichtlich in der Tat ihr Gutes –, bei Loís, weil er in Cristinos Nähe war, und bei Fabiou, weil immerhin schon seit nahezu achtundvierzig Stunden kein Mordanschlag mehr auf ihn verübt worden war. Sie liefen die Carriero de Jouque hinunter, Frederi Jùli hatte die Arme ausgestreckt und versuchte, 707
die Wände zu beiden Seiten zu berühren, und Catarino war so gut gelaunt, dass sie es ihm gleichtat.
Sie hatten ihr ganzes restliches Leben Zeit, darüber nachzudenken, was aus ihnen geworden wäre, wären sie an diesem
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