Die Kinder des Ketzers
töten muss. Und weil er schlicht und ergreifend keine Ahnung hatte, wie er jetzt nach Ais kommen und Hilfe für Loís holen sollte.
Eine gute Viertelstunde stand er so neben dem verletzten Tier und schniefte vor sich hin. Dann entschied er, dass ein wahrer Held sich von Lappalien wie einem verwundeten Pferd nicht von seiner Aufgabe abhalten lassen durfte. Er nahm den humpelnden Jaco am Zügel und lief los, Schritt für Schritt, auf dem langen, langen Weg nach Ais.
***
Die Höhle des Löwen bestand aus einer Burg an einem der steilsten Hänge des Großen Luberoun und einer Ansammlung von Bauernhäusern am Fuß dieses Hanges. Nicht beeindruckender als Castelblanc, das Ganze, vielleicht zwei Bauernfamilien mehr, aber sonst nichts Besonderes, ein kleines Dorf, ohne Kirche, ohne befestigte Straße, ohne auch nur eine Schenke, ein kleiner Dorfplatz, um den sich aus rohen Steinen aufgetürmte Häuser scharten. Es waren die ausgedehnten Ländereien, auf die die Bedeutung der Mergoults zurückzuführen war, nicht das Zentrum selbst. Schmutzige Kinder zeigten mit dem Finger auf sie, als sie quer durch das Dorf ritten und in die steile Straße einbogen. «Sagt euren Eltern, morgen gibt’s hier etwas zu sehen!», schrie Jean de Mergoult den Kindern im Vorbeireiten zu. «Morgen wird hier einer gehängt!» Er zeigte zum Ende des Dorfes, dorthin, wo der Hügel gerade anzusteigen begann. In Ordnung, eine Attraktion hatte das Kaff.
Auf dem Anstieg stand aus roh geschnittenen Brettern zusammengezimmert ein Galgen. Fabious Mund war so trocken wie Sägespäne.
Der Weg war in Serpentinen angelegt, doch auch diese nahmen die Steigung nur unzureichend heraus, und jeder Scheitelpunkt war schweißtreibend. Fabiou sah, wie Loís sich abmühen musste, mit seinen gefesselten Händen nicht vom Pferd zu rutschen. Er dachte an Frederi Jùli. Angenommen, Frederi ritt wirklich auf dem schnellsten Weg nach Ais. Angenommen, er verirrte sich nicht, 777
hielt nie an, um Pause zu machen oder etwas zu essen oder zu trinken. Dann konnte er Ais vor Einbruch der Nacht erreichen. Und dann? Würde Frederi sofort alles stehen und liegen lassen, einen Anwalt auftreiben und mit ihm im gestreckten Galopp nach Mergoult reiten, so dass er noch vor dem nächsten Morgen dort ankam? Frederi, der noch nie ein Mann der Tat gewesen war? Und der Buous? Würde Frederi ihn überhaupt informieren? Und wenn ja, war es wirklich so weit her mit seiner Liebe zu den alten Gesetzen der alten Prouvenço, dass er einem unbedeutenden Pferdeknecht zuliebe auf seinen geruhsamen Nachtschlaf verzichten und ihnen zu Hilfe eilen würde? Oder war der Buous, wie so viele andere, einfach groß im Redenschwingen?
Was, wenn keiner kam?
Fabiou wurde es abwechselnd heiß und kalt bei diesem Gedanken.
Dann bogen sie um einen Felsvorsprung, und vor ihnen lag das Castel de Mergoult.
Es war eines jener Bauwerke, über die die kulturellen Stürme der Renaissance spurlos hinweggegangen waren. Eine uralte Trutzburg mit Mauern wie Felswände, winzigen Schießscharten als Fenster und einem riesigen Bergfried, der wie ein überdimensionaler Finger in den strahlend blauen Abendhimmel zeigte. Von seiner Höhe, umgeben von Zinnen wie von den Zähnen eines Monsterunterkiefers, hatte man einen Blick über die Hänge des Luberoun von Lourmarin bis Carbriero d’Aigue und über die Ebene bis nach Pertus. Weit im Süden konnte man einen grauen Fleck in einer Senke erahnen. Ais.
Das Tor war geöffnet, und der Burghof mit allerlei Volk belebt, das neugierig zusammengelaufen kam, als die Mergoults mit ihrem Gefangenen in den Hof ritten. Neben einigen Dienern und Waffenknechten erkannte Fabiou Alexandres treue Freunde, Brieul und St. Roque Junior. Letzterer saß auf dem vordersten einer Reihe von Fässern, die sich um ein eindrucksvolles gusseisernes Monstrum scharten, und experimentierte an einer Armbrust herum. Fabiou stand der Mund offen. Das Monstrum war eine schwere, langläufige Kanone. «Jesus, Alexandre, wen schleppst du denn da an?», fragte St. Roque.
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«Um Himmels willen, Bertran, geh von dem Pulverfass ‘runter, da wird’s einem ja ganz anders!», rief Alexandre, und als der St. Roque grummelnd gehorchte, fügte er grinsend hinzu: «Einen Wegelagerer. Er hat Jean und seine Freunde überfallen. Morgen wird er aufgehängt.»
Pulverfass? Wozu im Himmel brauchen die so viele
Pulverfässer?
«Wegelagerer?» St. Roque runzelte die Stirn. Er wirkte mit der Situation intellektuell etwas
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