Die Kinder des Ketzers
Waffenknechte packten Loís unter den Armen und zerrten ihn die Stufen zur Galgenplattform hinauf.
«Ein Priester!», kreischte Fabiou. «Ihr habt nicht mal einen Priester! Jedem Verurteilten steht doch zumindest ein Priester zu!»
«Halt den Rand, Castelblanc!», schrie Jean.
«Ich heiße Bèufort!»
Loís stand unter dem Galgen, betrachtete mit einem seltsamen, erschöpften Blick aus seinem einen offenen Auge die Schlinge, die vor seinem Gesicht baumelte und einen schlanken Schatten ins Gras warf. Dann wandte dieses Auge sich Fabiou zu. Sein verschwollenes Gesicht verzog sich zu etwas, was wohl ein Lächeln 805
sein sollte, während St. Roque, strahlend vor Begeisterung, nach der Schlinge griff, um sie ihm um den Hals zu legen. Ein Wunder, lieber Gott, ich habe dich noch nie wirklich um etwas gebeten, aber heute bitte ich dich um nicht mehr und nicht weniger als ein Wunder, dachte Fabiou. Obwohl der rationalen Seite seines Ichs natürlich klar war, dass das Wunder, das er da verlangte, schon alttestamentarischen Ausmaßes sein musste, um Loís jetzt noch zu retten.
Aber Fabiou hatte Glück. Gott war offensichtlich in gnädiger Stimmung heute. Zumindest, was Loís betraf.
***
Arnac de Couvencour parierte so schlagartig sein Pferd, dass Sébastien beinahe gegen ihn geprallt wäre. «Was ist?», keuchte er erschöpft. Sie waren seit ihrem Aufbruch aus Ais ununterbrochen geritten, die meiste Zeit in vollem Galopp. Und das nach einer erstens durchzechten und zweitens schlaflosen Nacht, die Prügel, die er zwischendurch bezogen hatte, gar nicht mitgerechnet. Arnac saß halb vornübergebeugt auf seinem Pferd und starrte durch die Bäume auf den Hügel, der vor ihnen lag. «Mergoult», sagte er.
Sébastien schloss mit ihm auf. «Da», flüsterte er. Arnac sah es gleichzeitig auch. Von der Burg auf der Höhe des Hanges wälzte sich ein Zug von Reitern talwärts. Sébastien erkannte die beiden Mergoults und ihre Getreuen und den Baroun d’Oppède. Und…
«Da ist Loís», flüsterte er. «Siehst du? Da, auf dem Pferd. Himmel, sieht der übel aus! Und… Herr Jesus, da ist Fabiou!»
Arnac blickte stumm auf den kleinen Bèufort, der hinter den Reitern den Hang herunterrutschte. «Immerhin, sie leben noch», murmelte er abwesend.
«Und?» Sébastien warf einen verzweifelten Blick in die Runde.
«Was machen wir jetzt?»
Arnacs Blick ging über den Hügel, über die Ebene davor, schließlich zu der Ansammlung von Bauernhäusern, hinter der sich der Galgen erhob. «Wir könnten…» Er brach ab. Er rang nach Luft. 806
«Wir müssten…» In sein Gesicht war plötzlich so etwas wie Verzweiflung getreten.
«Arnac, das ist hoffnungslos!» Sébastien schüttelte den Kopf, nervöser als beabsichtigt. «Schau die dir an! Das sind… fünfzehn, ach was, zwanzig Waffenknechte. Und dazu noch Maynier und der Mergoult’sche Freundeskreis! Dreißig gegen zwei! Wir sind gut, Arnac, klar, aber gegen die Übermacht haben wir keine Chance!»
«Wenn wir sie irgendwie… ablenken könnten…» Hektisch zuckten Arnacs Augen von den Reitern zum Dorf und vom Dorf zu den Reitern.
«Ablenken? Wie? Sollen wir das Dorf abfackeln oder was?»
«Nein, aber…»
Die Reiter hatten den Platz am Galgen erreicht. Sébastien sah zu, wie sie von den Pferden stiegen, wie Maynier sich auf seinem Stuhl platzierte, wie Bertran und Alexandre ihr Werk am Galgen begannen. «Arnac… mein Gott, Arnac, was sollen wir tun, wir haben nur noch ein paar Minuten, Jesus, Arnac!»
Arnac antwortete nicht. Stumm saß er im Sattel, die pechschwarzen Augen fest auf das Dorf und den Galgen gerichtet und auf die Menschen, die ihn umschwärmten. Sein Gesicht war weiß
geworden.
Hinter dem Dorf schwang jetzt die Schlinge vom Querbalken des Galgens, sanft von einem kühlen Morgenwind bewegt. Und über den Köpfen der Zuschauer erschien Loís, emporgezogen von den beiden Bewaffneten.
«Scheiße! Oh Scheiße, verdammte!», stöhnte Sébastien. «Die machen Ernst, Arnac! Oh Scheiße, was sollen wir jetzt bloß…» Er brach ab und starrte Arnac an.
Arnac bekreuzigte sich. Nicht die übliche, flüchtige Handbewegung. Ganz langsam ging seine Hand von seiner Stirn zu seinem Herz und von dort zu beiden Schultern. Wie etwas, von dem man weiß, dass man es zum letzten Mal tut. Wie sich ein Soldat bekreuzigt auf dem Weg in eine letzte Schlacht. «Bleib hier», sagte er zu Sébastien. Dann drückte er dem Pferd die Hacken in die Seite und sprengte los.
Sébastien brauchte
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