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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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Instruktionen, wo Mèstre Modès zu finden sei, meinte, er solle demselben ausrichten, dass sein ganzes Wundinstrumentarium vonnöten sei, und schickte ihn los. Dann drehte er sich zu der Familie um, holte tief Luft und sagte: «Es sieht nicht gut aus, gar nicht gut. Ihr solltet eine Messe lesen lassen.» Und ging. 826
    Der Cavalié verbarg sein Gesicht in den Händen. Die Dame Castelblanc schrie, oh Gott, oh mein Gott. Fabiou wurde endlich ohnmächtig. Cristino begann zu heulen. «Fedei viel aua», stellte Maria Anno fachmännisch fest. Theodosius’ Grinsen war noch breiter geworden.
    Eine Hand legte sich von hinten auf Cristinos Schulter. Es war Oma Felicitas. «Liegt dir etwas am Leben deines Bruders?», fragte sie kühl. Ihr Gesicht war wächsern.
    «Na-natürlich!», stotterte sie.
    «Dann hol deine Tante Beatrix, bevor dieser Pferdemetzger ihn in die Hände kriegt.»
    Cristino starrte sie an. Sie hatte ihre Tränen völlig vergessen. Dann drehte sie sich um und rannte aus dem Raum. Sie stürzte in den Hof hinaus. Schnaubend und schweißbedeckt standen dort die Pferde. Niemand hatte daran gedacht, sie abzusatteln und abzureiben. Cristino würdigte sie keines Blickes. Sie rannte. Noch nie in ihrem ganzen Leben war sie so gerannt. Sie stürzte vorwärts, in ihren zierlichen Hausschühchen, hindurch durch die Händler und die Marktfrauen, die Fuhrwerke und die spielenden Kinder, das steile Pflaster von Ais hinunter. Auf der Plaço dis Erbo verfing sich ihr linker Absatz in einer Ritze zwischen zwei Pflastersteinen und riss ab; sie ignorierte es, humpelte weiter, hinein in die Carriero de Santa Clara zum Konvent der Clarissinnen. Sie warf sich gegen das Tor. «Aufmachen!», kreischte sie. «Ich muss Mutter Consolatoria sprechen! Sofort!»
    Ein Fensterchen wurde geöffnet, das gestrenge Gesicht einer Nonne, umschlossen von ihrer Haube, erschien in der Öffnung.
    «Ich muss zu Mutter Consolatoria!», schrie Cristino. «Ich bin ihre Nichte! Mein Bruder ist schwer verletzt!»
    Das Fenster klappte zu. Atemlos lehnte Cristino an den Holzbohlen des Tores. Gott, bitte lass sie da sein, bitte, bitte…
    Das Tor schwang so plötzlich auf, dass Cristino schier zu Boden gestürzt wäre. Leichenblass stand Tante Beatrix vor ihr. «Fabiou?», fragte sie.
    «Nein», keuchte Cristino, «Frederi Jùli, es ist Frederi Jùli.»
    ***
    827
    Als sie in den Salon gekeucht kamen, erklärte Modès, der Wundarzt, den entsetzt dreinblickenden Anverwandten gerade, dass die Wunde ausgebrannt werden müsse, um eine Blutstillung zu erzielen, was die letzte Möglichkeit sei, das Leben des Kindes zu retten. Große Hoffnungen, so sagte er mit einem unruhigen Blick auf Frederi Jùli, der wie tot auf dem Diwan hing, könne er ihnen ohnehin nicht machen, soweit stimmte er in der Diagnose durchaus mit Docteur Grattou überein. Modès war ein großer, hagerer Mann, mit schlacksigen langen Gliedern und einer langen, scharfen Nase in einem schmalen Gesicht. Er hatte zwei Gehilfen mitgebracht, eine Tasche mit Instrumentarium und als wichtigstes Werkzeug ein großes hölzernes Kruzifix. Ob er es brauchte, um sich Gottes Beistand zu sichern oder um die Inquisition auf Abstand zu halten, war schwer zu sagen.
    Die Eltern weinten. Onkel Philomenus meinte, das wäre alles nicht passiert, wenn Frederi Fabiou nicht immer alles hätte durchgehen lassen. Catarino kauerte auf einem Stuhl und massierte mechanisch ihre Oberarme. In diesem Moment kamen wie gesagt Tante Beatrix und Cristino zur Tür herein. Tante Beatrix würdigte den nach Luft schnappenden Philomenus keines Blickes. Ihr Gesicht eine perfekte Maske der Barmherzigkeit kniete sie neben Frederi Jùli nieder. Der Cavalié, der schluchzend neben seinem Sohn kauerte, hob den Kopf. Sie schlug ein Kreuzzeichen über Frederi Jùlis Stirn und sagte in einem Tonfall, als würde sie ein Gebet intonieren: «Omnia verba mea affirma.» Bestätige alle meine Worte. Die wenigsten Wundärzte konnten Latein. Frederi starrte sie an. Sie wandte sich dem Wundarzt zu und sagte betrübt: «Was macht Ihr den Eltern falsche Hoffnungen? Dieses arme Kind braucht nur noch die Hilfe der Mutter Kirche. Lasst den Bruder», sie nickte Antonius zu, «die Salbung vornehmen, damit seine arme unschuldige Seele in Frieden heimgehen kann.»
    Die Dame Castelblanc, deren Lateinkenntnisse ebenfalls dürftig waren, brach in schrilles Schluchzen aus. Antonius hatte die Stirn gerunzelt. Philomenus sah aus wie ein Pulverturm bei einem Großbrand.

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