Die Kinder des Ketzers
aussichtslos es war, er begann mit einem neuen Vortrag über sein Recht auf standesgemäße Behandlung, über Ehre und Würde und christliche Nächstenliebe. Keiner schien davon auch nur Notiz zu nehmen. Hinter ihm wurde Arnac zur Tür hereingeschleift. Sébastien fühlte, wie sich jemand an seinen Händen zu schaffen machte, und im nächsten Moment löste sich die Schnur, die seine Handgelenke zusammengehalten hatte. Er merkte erst jetzt, dass seine Finger bereits völlig eingeschlafen waren. Viel Zeit zur Freude blieb ihm allerdings nicht. Zwei der Knechte stießen ihn gegen die Wand. Er war so geschockt, dass er überhaupt keinen Widerstand leistete, als sie seinen rechten Arm beiseite zogen und ein rostiger Metallring sich um sein Handgelenk schloss. Er war über eine ebenso rostbraune Kette mit der Wand verbunden. «Mergoult», krächzte er in Panik, «das könnt Ihr nicht machen, wir sind 820
keine Wegelagerer, die Ihr in Ketten legen könnt, Mer… he…» Er brach keuchend ab. Der Knecht hatte den Metallring zugedrückt, als ob er vorhabe, ihm auf diese Weise das Handgelenk zu zerquetschen, und mit einem hässlichen Quietschen rastete ein Bolzen ein. Sébastien stand starr vor Entsetzen an der Wand. Er kannte einige Geschichten über Edelleute, die von tyrannischen Herrschern in Ketten gelegt worden waren, und oft hatte er gedacht, wie furchtbar entwürdigend eine solche Lage sein musste. Nie war er auf den Gedanken verfallen, dass es wehtun könnte.
Als sie nach seiner anderen Hand griffen, wehrte er sich. Er trat einem der Waffenknechte seinen Stiefel gegen den Oberschenkel und boxte den zweiten gegen die Schulter. Es war aussichtslos. Drei andere eilten herbei, und zehn Sekunden später war auch sein linker Arm an der Wand festgekettet. Sie ließen ihn stehen. Sébastien blickte nach rechts, wo sie Arnac gegen die Wand gelehnt hatten und ihn nun ebenso festmachten. Er sah furchtbar aus. Sein Gesicht hatte das Weiß der Spinnweben über seinem Kopf angenommen, bedeckt von roten Schlieren. «Mergoult», sagte er. Seine Stimme klang verändert. So als kostete es ihn seine letzte Kraft, überhaupt etwas zu sagen. «Mergoult, hör mir zu…»
«Halt die Klappe, Couvencour! Du kannst jetzt deine frechen Reden vor den Ratten halten!»
«Mergoult, Cristino! Sie ist in Gefahr! Jemand will sie töten, das weißt du…»
«Lass Cristino aus dem Spiel, verdammt noch mal!», herrschte Alexandre ihn an.
«Mergoult, wenn du sie wirklich liebst, dann pass auf sie auf, bitte…»
«Ach!» Mergoult machte eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich zum Gehen. «Also dann, viel Spaß hier unten! Keine Sorge, ihr werdet nicht allzu lange hier aushalten müssen. In zwei oder drei Tagen kommt Alest und bringt euch nach Aix. Nicht, dass die Gefängnisse da wesentlich komfortabler sind, aber es ist immerhin mal etwas Neues, nicht wahr?»
Er ging. Sie gingen alle. Die Tür schlug zu, und ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht. Sie hörten, wie sich die Schritte die Treppe hoch entfernten; einen Moment lang drang noch der 821
schwache Widerschein der Fackel unter der Tür durch, dann wurde es dunkel.
Nicht dunkel. Dunkel!
Nicht die Art Dunkelheit, der man in einer mondlosen Nacht oder einem nächtlichen Zimmer begegnet. Nicht die Art Dunkelheit, an die sich die Augen gewöhnen können, die einen, wenn auch nicht sehen, so doch zumindest erahnen lassen, dass es eine Welt jenseits des eigenen Denkens gibt. Diese Dunkelheit war perfekt, eine Dunkelheit, als ob die Augen blind wären. Eine Dunkelheit, die nicht einmal die Erinnerung an Licht zuließ. Eine Dunkelheit, vor der man die Augen schließen musste, um nicht geblendet zu sein von ihrer Intensität. Sébastien spürte, wie sein Puls wie ein Schmiedehammer in seinem Hals raste, wie sein Atem sich beschleunigte, ein hohes, schrilles Fiepen in den ertränkenden Wogen der Dunkelheit, wie kalter Schweiß von seiner Stirn strömte, von seiner Lippe tropfte und seine Kleider am Leib kleben ließ wie Pech, und wie ein Schrei in seinem Inneren aufkeimte und seinen Kopf anfüllte bis zur letzten Gehirnkammer.
«Sébastien!»
Der Ruf brach in seine Panik wie ein Schwall Eiswasser. Japsend lehnte er an der Wand, kämpfte um Luft wie ein Ertrinkender.
«Sébastien, verdammt, dreh jetzt nicht durch!»
«Wir werden sterben!», kreischte Sébastien. «Wir werden krepieren, hier unten, verhungern und verdursten, oder die Inquisition wird uns holen, oh Gott, Arnac, oh
Weitere Kostenlose Bücher