Die Kinder des Ketzers
kurzer Beratung war uns klar, dass wir es vor unserem Gewissen und vor Gott nicht würden rechtfertigen können, diese armen Menschen ihrem Schicksal zu überlassen. Nicht allzu weit von jenem Ort kannten wir eine kleine Höhle, gut verborgen unter einem Felsvorsprung. Wir führten die Leute dort hin und versteckten uns mit ihnen. Bei Einbruch der Nacht machten wir uns auf den Weg. Unser Plan war es, die Menschen quer durch den Grand Lubéron nach Tour d’Aigue zu führen, da wir uns gewiss waren, die Baronin de la Tour d’Aigue, zu deren Land diese Menschen gehörten, würde ihnen Zuflucht gewähren.
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Es war ein beschwerlicher und gefährlicher Weg. Die Menschen, geschwächt wie sie waren, Alte und kleine Kinder unter ihnen, waren kaum in der Lage, sich vorwärtszuschleppen. Dazu kam die ständige Gefahr, von den herumstreifenden Söldnertrupps entdeckt zu werden. Mehr als einmal hörten wir in allernächster Nähe Rufe und Hufschlag oder sahen die Fackeln, mit denen sie in die Büsche leuchteten. Die Kinder fingen zu weinen an, wenn sie sie hörten, und wir standen Todesängste aus, das Weinen der Kinder könnte sie auf unsere Spur bringen. Wir schafften in jener Nacht nur die Hälfte des Weges und lagerten schließlich irgendwo im Wald des Grand Lubéron. Die Geräusche des Mordens waren ferner jetzt, doch sie verstummten nicht, und dunkler Rauch strich in Schwaden über den Lubéron und verdunkelte die Sonne.»
Er stellte sich vor, wie sie durch die Nacht zogen, sein Vater, sein Onkel, Couvencour und Degrelho, weinende kleine Kinder mit sich schleifend, ihre Pferde am Zügel führend, auf deren Rücken Verletzte hingen, die Nacht beleuchtet vom Geisterlicht der Feuer, die wie Irrlichter durch den Wald flackerten, ringsum die Laute, aus denen die Angst gemacht ist, Befehle, die gebrüllt werden, die Entsetzensschreie derer, die man entdeckt hat, und das triumphale Brüllen ihrer Entdecker. Er stellte sich vor, wie sie im Wald lagerten, versteckt hinter einem Gebüsch, in Rufweite voneinander um den Lagerplatz verteilt. Sein Onkel, übermüdet, unrasiert, halb verhungert, wie er auf dem Waldboden kauerte, das Lederbüchlein auf den Knien, und mit zitternden Fingern Zeile um Zeile auf die verknitterten Blätter kritzelte, auffahrend bei jedem Geräusch, jedem Knacken im Gebüsch, jedem aufflatternden Vogel. Sein Vater, der auf die schlafenden Kinder starrte und wahrscheinlich an seine eigenen Kinder dachte, die daheim in Ais friedlich in ihren Betten lagen oder auf dem Fußboden im Salon der Aubans spielten.
«Wir gingen weiter, kaum dass es Nacht geworden war. Der Hunger hatte die Menschen weiter entkräftet, so dass wir alle paar Schritte innehalten mussten, um auszuruhen. Eine alte Frau brach irgendwann einfach tot am Wegesrand zusammen. Wir hatten weder die Zeit noch die Kraft, sie zu begraben. Im Osten hellte der Himmel bereits wieder auf, als wir endlich Tour d’Aigue erreichten. Doch hier erwartete uns eine böse Über859
raschung: Das Schloss war von Mayniers Soldaten besetzt, der Ort war ein einziges Heerlager. Seigneur Couvencour blieb mit den Flüchtlingen im Wald zurück, während Baron Degrelho, Baron de Bèufort und ich zum Schloss gingen. Wir hatten Glück; es gelang uns, unbehelligt zu der Baronin durchzudringen. Die arme Frau, die wir als so gutherzig und edelmütig kannten, war wie gebrochen durch die furchtbaren Ereignisse, die sich auf ihrem Grund und Boden zugetragen hatten und denen Menschen zum Opfer gefallen waren, die sie als ihre Schutzbefohlenen betrachtete und von denen sie viele gekannt und geschätzt hatte. Auch denen, die wir unter so gefahrvollen Bedingungen zu ihr gebracht hatten, konnte sie keinen Schutz gewähren; ihr Schloss war besetzt, ihre Waffenknechte zum Teil erschlagen, ihre Vorräte geplündert. Sie schwor unter Tränen, dass sie Maynier für dieses Verbrechen zur Verantwortung ziehen würde. Daraufhin gab sie uns ein paar ihrer verbliebenen Waffenknechte mit und zwei Pferde bepackt mit den wenigen Vorräten, die sie erübrigen konnte, und riet uns umzukehren und nach Buoux zu ziehen, das, wie sie glaubte, nicht erobert worden sei. Und so machten wir uns erneut auf den Weg. Zwei Nächte hatten wir nach Tour d’Aigue gebraucht, zwei weitere Nächte benötigten wir für den Rückweg. Drei der Flüchtlinge starben auf dem Marsch durch die Dunkelheit, zwei kleine Kinder, ein alter Mann. Buoux war unangetastet geblieben. Der Baron, entsetzt von dem, was im Namen des
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