Die Kinder des Ketzers
dann hätte sein Ende nichts mit dem heldenhaften Tod eines Abenteurers zu tun, den er sich immer vorgestellt hatte, ein Tod im Duell oder im Kampf gegen Wegelagerer, durchbohrt von einem Degen, der schneller oder stärker als der seine war. Die Alternativen, die sich ihm boten, waren, hier zu sterben, in dieser Dunkelheit, an Hunger und Durst und der Kälte, die sich mit jeder Minute tiefer in seine Knochen fraß, oder in den Händen der Inquisition. Und das war ein Gedanke, der so wahnwitzig, so überwältigend in seiner Entsetzlichkeit war, dass spätestens hier jeder Versuch endete, gegen die Angst anzukämpfen, und nichts zurückblieb als nackte Panik. Am Anfang hatte er noch versucht, die Dinge rational zu sehen. Vernünftig. So wie Arnac gesagt hatte. Was sollte ihm schon passieren, er hatte schließlich nichts Unrechtes getan, er war das Opfer einer böswilligen Verleumdung, das musste jedem Richter klar werden, Inquisition hin oder her. Sie würden seinen Beteuerungen glauben und ihn wieder gehen lassen. Er würde sich irgendwie herausreden, so wie er sich Paul gegenüber immer herausredete. Er würde Arnacs Rat folgen, behaupten, er sei betrunken gewesen, und Abbitte leisten. Paul würde ihn retten, würde ihm einen vorzüglichen Anwalt besorgen, würde das Gericht bestechen, würde seine Beziehungen spielen lassen. Es würde gut gehen, irgendwie. Am Anfang hatte er noch versucht, sich abzulenken. Er hatte geredet, mit Arnac, irgendwelche belanglosen Gespräche über Gott 875
und die Welt und Fabiou und Cristino, alles, was einen davon abhalten konnte, an die Situation zu denken, in der man sich befand. Dann, als die Erschöpfung sich über ihn herabsenkte und der Durst seine Lippen zusammenkleben ließ, waren diese Gesprächsversuche seltener geworden, und auch Arnac war immer einsilbiger geworden und schließlich ganz verstummt. Er hatte dann versucht, an etwas anderes zu denken, etwas Schönes, hübsche Frauen zum Beispiel, und schnelle Pferde, und daran, wie er Hervet seinen Degen an die Kehle gehalten hatte. Aber dann, ganz allmählich, begannen seine Kräfte nachzulassen. Mit jeder Minute, die er in der Dunkelheit verbrachte, mit jedem eisigen Tropfen, der in der Ecke von der Gewölbedecke fiel, wurde ein bisschen mehr von seiner Selbstbeherrschung davongespült, bis er nur noch ein bibberndes Häufchen Elend war und in seinem Denken für nichts anderes mehr Raum blieb als für den wahnwitzigen Schmerz, der aus seinen Schultern und seinem Nacken die Arme herunterkroch, um sich in seinen Handgelenken zu glühendem, pulsierendem Irrsinn zu verdichten. Die Angst und der Schmerz wurden zu einem riesigen, grinsenden Monster, das einmal seinen gewaltigen Rachen aufmachte und ihn verschluckte wie ein Frosch eine Fliege, um ihn dann langsam und gnadenlos zu verdauen.
Schließlich, nach Stunden oder Tagen, jedes Zeitgefühl war eine Illusion, ließ es nach. Die Erschöpfung breitete sich in seinen Gliedern aus, erfüllte sein Gehirn bis zur hintersten Kammer, ein bleierner Puls, der durch seine Adern tropfte und alles betäubte wie Opium. Müde und ziemlich uninteressiert fragte er sich, ob er jetzt wohl sterben würde. Der Mensch hält es nicht allzu lange ohne Wasser aus. Zwei, drei Tage höchstens, hatten sie bei Hof gemunkelt, wenn das Gespräch sich um die heldenhaften Weltumsegler drehte. Es war egal. Es war in Ordnung. In seinem ganzen Leben hatte ihn die Möglichkeit seines eigenen Todes nicht so kalt gelassen wie jetzt. Irgendwann begriff er, dass etwas nicht stimmte. Etwas bei dieser ganzen Geschichte war widersinnig, ein Denkfehler, den sie die ganze Zeit gemacht hatten. Rablois, dachte er, ohne zu wissen, warum. Wie kann es sein, dass das Weib sich umgebracht hat? So eine 876
kennt doch keine Reue, bestimmt nicht. Aber wenn sie sich nicht umgebracht hat, wer war es dann?
Sein Denken driftete davon in die Tiefen einer gleichgültigen Bewusstlosigkeit. Wenn er wieder aufwachte, würde er darüber nachdenken. Wenn.
Er hoffte, dass nicht.
***
Es war kein Traum mehr. Träume sind Bilder. Dies war anders. Real. So real wie etwas, was wirklich geschieht. Sie konnte den Nachtwind hören, der draußen durch die Bäume strich, das Rau- schen des Springbrunnens in dem kleinen Innenhof, den fernen Schrei eines Käuzchens. Sie spürte die Kühle der Marmorplatten unter ihren nackten Füßen, während sie lief, sie spürte den Saum ihres Nachthemds, der um ihre Füße strich, und die Angst. Real, so
Weitere Kostenlose Bücher