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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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real.
    Da war das Jagdfresko, und der Gang, der die Biegung nach rechts machte, dort, wo der leblose Körper eines kleinen Mäd- chens auf dem Fußboden lag. Sie stand vor ihr, weinend, spürte die Nässe der Tränen auf ihrem Gesicht und das Schluchzen in ihrem Hals. Alice, wimmerte sie.
    Die Schritte hinter ihr, jene grausamen, eilenden Schritte, so nah schon. Und die Stimme. Keine unangenehme Stimme. Eine Stimme, die nach Nähe, nach Vertrauen klang. Agnes. Bleib ste- hen, Agnes. Ich tu dir doch nichts, meine liebe, kleine Agnes. Sie fühlt das Kratzen in ihrem Hals, als sie schreit. Mama. Papa.
    Sie stolpert weiter. Da ist der Stern, ein Mosaik im Boden, braun und oliv auf rotem Grund.
    Louise!
    Sie kommt. Natürlich kommt sie. Louise ist immer gekommen. Louise, die sie vor den Geistern beschützt, die des Nachts unter ihrem Bett lauern. Louise, die die bissigen Hunde verscheucht und dem Schwarzen Mann eine lange Nase dreht. Als Louise aus den Schatten tritt, hinein in das Zentrum des Sterns unter dem hohen Gewölbekreuz, da weiß sie, dass sie gerettet is, Louise wird sie in 877
    den Arm nehmen, sie festhalten und ihr ins Ohr flüstern, dass al- les gut wird. Und so ruft sie, Louise, Louise, und weint und streckt die Ärmchen nach ihr aus, und weiß, alles ist gut. Louise schließt sie nicht in die Arme. Louises Hand schießt vor und umklammert ihr Handgelenk, so fest, dass sie aufschreit, und mit einer ruckartigen Bewegung zieht sie sie hinter sich. Agnes weint, lauter jetzt, wütend, sie will, dass Louise sie hält, sie will, dass Louise sie tröstet, doch das Weinen erstickt in ihrer Keh- le, denn da kommt sie, blonde Haare, die ihr erhitztes Gesicht umflattern, während sie näher kommt, jenes Lächeln auf den Lip- pen, in denen noch immer so viel Vertrauen, so viel Nähe liegt, dass alles danach drängt, sich ihr in die Arme zu werfen. Louise, sagt sie sanft, da bist du ja, Louise. Wieso lauft ihr denn vor mir weg, ihr bösen, bösen Kinder?
    Agnes schreit. Louise, komm weg, schreit sie, sie will uns was Böses, sie hat Alice was Böses getan, Louise!
    Still steht Louise vor Agnes und sieht dem Kindermädchen ent- gegen, das langsam, lächelnd auf sie zugeht.
    Louise, schnieft Agnes, komm weg, Louise, schnell!
    Louise steht und sieht dem Kindermädchen entgegen. Louise!, kreischt Agnes.
    Das Kindermädchen ist da. Es lächelt noch immer, während es Louise die Hände um den Hals legt und zudrückt. Cristino fuhr hoch. Keuchend starrte sie in die Nacht, die vor dem Fenster schwankte, ein paar Bäume, die vorbeiglitten, ein Weizenfeld, wogend im Nachtwind, fahl beleuchtet vom Licht eines abnehmenden Mondes. Rechts von ihr hing Loís in den Kissen der Kutsche. Er schlief, sein Bündel selbst im Schlaf mit beiden Armen umklammert. Ihm gegenüber saß der Baroun. Seine Augen waren offen; das Mondlicht spiegelte sich in ihnen, während er aus dem Fenster sah.
    Etwas war da in der Nacht, durch die sie jagten, etwas Murmelndes, Raunendes, was tückisch nach den Achsen der Kutsche angelte und den Pferden in die Zügel griff. Es gibt keine Geister, wiederholte sie verzweifelt vor sich selbst, es ist alles nur Einbildung, ein Produkt meiner überspannten Fantasie!
    878
    Wie kam es, dass sie tief in ihrem Innern ein Lachen zu hören vermeinte in Antwort auf diese Worte, ein Lachen, das so kalt und so höhnisch war, dass das Mark in ihren Knochen zu Eis zu gefrieren schien? Es gibt keine Geister, Cristino, ja? Bist du dir da so sicher?
    Eine eiskalte Hand griff nach Cristinos Kehle und würgte ihren Atem ab. Etwas geschieht. Etwas wird geschehen.
    Bald.
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    Kapitel 19
    in dem weitreichende Entscheidungen getroffen werden und der Ritter der Kelche seinen Heiligen Gral findet
    Tum in naturali contemplatione debile adhuc veritatis lumen, quasi nascentis solis incunabula, pati assuescamus ut tandem quasi caelestes aquilae meridiantis solis fulgidissimum iubar fortiter perferamus.
    Dann sollen wir uns in der Betrachtung der Natur daran gewöhnen, das noch schwache Licht der Wahrheit auszuhalten, gleichsam die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, um schließlich wie die Adler des Himmels den strahlendsten Glanz der Mittagssonne tapfer zu ertragen. Pico della Mirandola (1463-1494), italienischer Philosoph und Freidenker, Oratio de hominis dignitate (Von der Würde des Menschen) 881
    Der 6. Juli war ein durchschnittlicher, heißer Sommertag. Ein Tag, wie man ihn um jene Jahreszeit erwartete, an dem die Hitze zwischen den

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