Die Kinder des Ketzers
vorne, während alles plötzlich in heilloser Panik dem Ausgang zustürzte, eine verschwommene Masse aus Gesichtern und Körpern ringsumher, Hannes’ Gesicht mit den weitaufgerissenen bernsteinfarbenen Augen als einziger klarer Fixpunkt in einem Wirbel von Chaos, und sie breitete die Arme aus und warf sich über ihn.
Und die Welt explodierte.
***
Die Pferde jagten über die Straße, die allmählich in Dämmerlicht versank, und Sébastien fühlte sich im wahrsten Sinne des Wortes zum Kotzen. Die Übelkeit kam und ging in Wellen, stieg ihm die Kehle hoch und krampfte seinen Magen zusammen. Er fühlte sich grauenvoll.
Er konnte sich im Übrigen nicht vorstellen, dass es Arnac auch nur im Geringsten besser ging. Wahrscheinlich eher schlechter, wenn man die Umstände bedachte. Dennoch machte Arnac keinerlei Anstalten, die Geschwindigkeit zu verringern. Nur ganz selten war ihm anzusehen, dass er mit seinen Kräften gleichermaßen am 916
Ende war. Einmal, als sie an einer Wegkreuzung anhielten, um sich zu orientieren, schwankte er derart im Sattel, dass Sébastien fürchtete, er könne vom Pferd stürzen. Kurz bevor sie auf den Weg einbogen, der von Ais kommend zur Fähre über die Durenço und von dort weiter nach Pertus zog, reichte es Sébastien dann endgültig. «Arnac!», brüllte er. «Verdammt, Arnac, halt an!»
Arnac zügelte sein Pferd. «Was ist?», fragte er ungnädig.
«Schluss jetzt!», keuchte Sébastien. «Wir brauchen eine Pause!»
Arnacs Augen funkelten im Dämmerlicht. «Wir müssen nach Ais!», zischte er
«Verflucht, Arnac, jetzt reicht es! Du bist verletzt! Du hast dir eine Rippe gebrochen, war’s nicht so? Und was du sonst noch für Verletzungen hast, weißt du ja nicht mal! Damit ist nicht zu spaßen!
Wir sollten nach Pertus und dort zu einem Arzt! Wir sollten…»
«Verdammt, Sébastien, ich muss nach Ais! Jetzt!»
«Aix läuft dir nicht weg, Himmel noch eins! Was ist so wichtig, dass du unbedingt heute Abend noch dort ankommen musst?»
Arnac nagte an seiner aufgeplatzten Unterlippe. «Cristino», sagte er dann.
«Cristino!», stöhnte Sébastien. «Immer wieder Cristino! Ich kann’s nicht mehr hören! Sie wird es ja wohl auch noch eine Nacht länger ohne dich aushalten!»
Arnac schüttelte hektisch den Kopf. «Ich habe ein ungutes Gefühl», sagte er. «Ein verdammt ungutes Gefühl. Ich muss zu ihr, sofort!»
«Oh, Jesus, fang du nicht auch noch mit so einem metaphysischen Quatsch an!», schimpfte Sébastien. «Willst du jetzt sagen, dass du eine übersinnliche Beziehung zu Cristino hast, so wie sie zu ihrer Agnes Degrelho, oder was? Überhaupt, wie stellst du dir das vor, einfach nach Aix zu reiten? Da kannst du ja gleich bei der Chambre Ardente anklopfen und sagen, guten Abend, ich habe mir gedacht, ich spare euch den Weg und komme vorbei!»
Arnacs Augen waren schwarze Brunnen, in deren Wasser sich der graue Horizont spiegelte. «Ich muss nach Ais», erklärte er ein letztes Mal, trieb sein Pferd an und jagte weiter. 917
«Oh Mann, ihr spinnt echt alle, ihr Provenzalen!», schrie Sébastien hinter ihm her.
***
Es war ein kleines, aber sehr elegantes Gemach, mit einem Himmelbett überspannt von einem Baldachin aus grünem Samt und leichten Seidenvorhängen, die sich sacht im Nachtwind bewegten.
«Es ist still hier nachts», erklärte die Zofe eifrig. Sie war pummelig, ihr Gesicht hasenähnlich mit den langen Schneidezähnen. «Ihr werdet sanft schlafen und glückselig träumen.» Offenbar war sie der Meinung, dass ein sechzehnjähriges Edelfräulein gar nicht anders konnte als glückselig träumen, wenn sie sich fernab von Lärm und Hektik der Stadt zur Ruhe bettete. Cristino sah das etwas skeptischer.
Loís tigerte unruhig in dem Gemach auf und ab, während die Zofe Cristinos Bett richtete, sah durch die Vorhänge nach draußen, überprüfte die Türklinke. Cristino war kurz davor, ihn entnervt zu fragen, wonach er eigentlich suchte, als die Zofe spitz zu Loís sagte:
«Ich werde der Barouneto nun beim Auskleiden behilflich sein. Ich denke, du kannst gehen. In der Dienstbotenunterkunft steht ein Bett für dich bereit.»
Loís hatte die Stirn gerunzelt. «Sehr freundlich», sagte er. «Aber ich bin zum Schutz der Barouneto mitgekommen. Immerhin wird sie bedroht. Ich werde vor der Tür schlafen.» Er warf erneut einen misstrauischen Blick auf das Fenster. Offenbar störte es ihn, nicht an zwei Stellen gleichzeitig Wache halten zu können. Cristino ließ sich aus den
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