Die Kinder des Ketzers
wird. Ulrich von Hutten (1488-1523),
deutscher Poet und Revolutionär
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Es gibt ein Märchen, das man Kindern erzählt. Darin geht es um einen Spiegel aus purem Gold, mit seltsamen Verzierungen auf dem Rahmen, Gnomen, Zwergen, trollartigen Wesen. Eine Dienstmagd, die sich in diesem Spiegel betrachtet, stellt plötzlich fest, dass er ein Tor ist, durch das sie hindurchschreitet und ins Zwergenreich gelangt. Die Zwerge halten gerade Hochzeit und bitten das Mädchen, ihnen Gesellschaft zu leisten. Sie stimmt zu und feiert und tanzt mit den Zwergen drei Tage und drei Nächte lang. Als sie dann zurückkehrt, ist ihre Herrschaft fort, das Haus gehört fremden Leuten, denn in jenen drei Tagen und drei Näch- ten sind in der menschlichen Welt hundert Jahre vergangen. Vielleicht ist es einer jener Spiegel, aus dem ihr das Gesicht des Kindes entgegenlächelt. Einer jener Spiegel, die ein Tor sind in eine andere Zeit und eine andere Welt. Vielleicht winkt das Kind ihr aus jener anderen Welt zu, winkt ihr, zu kommen, sich mit ihr zu verbinden. Und sie kommt, denn was hat sie für eine Wahl, sie ist längst an sie gekettet, durch die Macht des Medaillons um ihren Hals. Sie streckt die Hand aus, und ihr gegenüber hebt auch das Mädchen im Spiegel die Hand, und ihre Finger berühren ein- ander. Fernes Rauschen füllt die Nacht, das Lied des Windes in den Bäumen vor dem Haus, das Lied eines Brunnens, der im In- nenhof in ein steinernes Becken plätschert.
Agnes Degrelho. Blonde Locken um ein süßes, pausbackiges Gesicht, rosige Lippen, die aus dem Spiegel lächeln. Eine Locke schwingt sich keck in die Stirn vor, umschlingt das sternförmige Muttermal darauf, und sie lacht und wischt sie mit einer jener un- beholfenen Bewegungen der Kindheit beiseite. Dann hört sie auf zu lachen. Vielleicht wegen der Löwen, die sich auf der Zierleiste gegenübersitzen wie die Wächter eines verborgenen Schatzes und ihre langen Reißzähne fletschen. Vielleicht wegen jener weißen Frauengestalt, die links hinter ihr im Spiegel steht, ein anmutiger Körper, versilbert vom Mondlicht, den rechten Arm sanft zu ihr herabgeneigt. Ätsch, du bist nur aus Stein, sagt das Mädchen und streckt der Marmorfrau im Spiegel die Zunge heraus. Die Mar- morfrau reagiert nicht, lächelt weiter ihr versonnenes, wissendes Lächeln, als ob sie wüsste, was geschehen wird. Agnes! Da bist du ja, Agnes!
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Sie läuft. Sie weiß nicht, warum sie läuft, sie weiß nicht, war- um dieses Gesicht, das sie so oft in den Schlaf gesungen hat, ihr jetzt solche Angst einjagt. Da ist eine Stimme in ihrem Innern, die in jedem Lebewesen von Geburt an existiert, und diese Stim- me schreit ihr zu: Lauf, Agnes, bleib nicht stehen, Agnes!, und sie gehorcht, wie jedes Lebewesen an ihrer Stelle gehorcht hätte. Sie rennt, ihre nackten Füße klatschen auf den Marmorboden, so kleine Füße, sie braucht drei Schritte, während die Frau einen macht. Das ist ungerecht, das spürt sie mit der ganzen Gewissheit ihrer vier Jahre.
Agnes!, ruft es hinter ihr. Bleib stehen, Agnes! Ich will dir doch nichts tun! Sie dreht sich um. Du lügst, kreischt sie zurück, du willst mir was Böses, das weiß ich genau, und wieder rennt sie, keuchend jetzt, denn sie ist ja so klein und der Gang vor ihr ist so lang und so dunkel und hinter sich hört sie die Schritte, die mit jeder Sekunde näher kommen.
Mamaaa, schreit sie.
Louise hätte mit ihr geschimpft, wenn sie sie gehört hätte. Es ist Unsinn, nach Mama zu rufen. Mama kommt nicht. Mama ist jetzt ein Engel im Himmel. So wie Daniel und das unschuldige Kindchen. Louise spricht oft von dem unschuldigen Kindchen, das Mama im Bauch hatte, als sie starb, und das eigentlich ihr Ge- schwisterchen hätte werden sollen, wenn es nicht mit ihr gestor- ben wäre. Sie hat Louise gefragt, ob es ein Brüderchen oder ein Schwesterchen war, aber Louise hat gesagt, das weiß man nicht. Sie hat Louise auch gefragt, wie groß das unschuldige Kindchen wohl war, als es starb, und Louise hat ihre Hand gespreizt und ihr die Strecke zwischen Daumen und kleinem Finger gezeigt. So vielleicht, hat sie gesagt.
Sie schreit trotzdem nach Mama. Bloß weil sie ein Engel ist, heißt das, dass sie nicht kommen wird?
Sie rennt weiter. Rechts von ihr öffnet sich der Innenhof. Der Brunnen, wo Wasser aus einer Schüssel in eine zweite, tiefergele- gene Schüssel quillt, die es anfüllt, um über seinen Rand zu treten und in eine dritte Schüssel zu stürzen. Es sieht aus wie eine
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